Sonntag, 20. Januar 2019

Warum weinen?

Buchcover 
Unter dem Titel „Warum weinen“ hat Moritz Buchner seine Dissertation über die „Geschichte des Trauerns im liberalen Italien“ im 19. Jahrhundert veröffentlicht. Den Untersuchungszeitraum hat er mit den Beginn der finalen Phase der nationalen Einigung Italiens um 1850 bis zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg im Jahr 1915 umrissen, wobei er in seiner Schlussbetrachtung noch kurz auf die Umbrüche durch den Krieg eingeht. Trauer versteht er dabei als „als Ensemble unterschiedlicher Emotionen, Gefühle und Affekte, die mit dem Tod anderer Personen zusammenhängen“ und durch „Sprache sowie gesellschaftliche Normen und Praktiken moduliert sind“ (S. 16). Seine Untersuchung ordnet er in die Geschichtsschreibung der Gefühle ein. Neu daran ist, dass er die Trauer nicht als isoliertes Phänomen betrachtet, sondern in einen breiten gesellschaftlichen, ökonomischen, wissenschaftlichen und literarischen Kontext einbettet. Wie das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis veranschaulicht, beruht die Arbeit auf der Sichtung und Untersuchung einer eindrucksvollen Zahl von Archivalien, die er in verschiedenen italienischen Städten eingesehen hat, und unter Einbeziehung von Sekundärliteratur interpretiert. In immer neuen Zirkeln nähert sich der Autor über fünf Kapitel und eine Schlussbetrachtung seinem Thema.



Er beginnt mit dem Wissen über den Tod, das vor allem durch die Ärzte der – bürgerlichen – Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde. Während aus wissenschaftlicher Sicht der Tod zum irreversiblen Ende des Lebens wurde, blieben gleichzeitig religiöse Vorstellungen vom Weiterleben der Toten und der Hoffnung auf Auferstehung und/oder Wiedervereinigung im himmlischen Jenseits bestehen. Die medizinisch-rationale Perspektive veränderte jedoch die Beziehung zum Körper und motivierte Distanzierungspraktiken aufgrund hygienischer Überlegungen. 

Die darauf folgende Betrachtung der Wahrnehmung des Todes im Bürgertum geht von der Definition der Trauer in zeitgenössischen Enzyklopädien und Wörterbüchern aus. Der Vergleich verschiedener Jahrgänge zeigt, dass die Trauer um 1850 noch als Reaktion auf den Verlust verwandtschaftlicher Verbindungen erklärt wurde, während seit den 1880er-Jahren der Focus auf dem Verlust geliebter Personen lag. Gefühle wie Sympathie und Liebe wurden damit als Beziehungsgrundlage aufgewertet und moralisiert. Der Autor schreibt dazu, dass nun da „die rechtlich fixierten ständischen Sozialstrukturen der Vergangenheit angehörten“, Sympathie und Liebe den „entscheidenden Kitt“ bildeten, „der die Familie, und nach ihrem Vorbild die nationale Gesellschaft, zusammenhalten sollte.” Belege für seine These findet Buchner in Grabreden und Nachrufen, sowie persönlichen Aufzeichnungen, in denen sich die durchweg liebenswerten Verstorbenen unermüdlich um das Wohl von Familie, Nation und lokalem Umfeld verdient gemacht hatten. Trauergefühle wurden dabei nach außen durch das Vergießen von Tränen, das Tragen von Trauerkleidung und sowie soziale Enthaltsamkeit zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig wurde Trauer im öffentlichen Raum mit – teilweise aufwändigen – Ritualen inszeniert, mit denen man die soziale Stellung der Familie bewies.

Unter dem Titel „Die Normen der Trauer“ beleuchtet Buchner danach die normativen Vorgaben für den Umgang mit Tod und Trauer, wobei die katholische Religion und das Vaterland als zentrale Bezugspunkte dargestellt werden. In dem untersuchten Zeitraum begann die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit geliebten Personen im Himmel den Glauben an die Existenz der Hölle zu unterminieren. Auch wenn man noch an das Fegefeuer als Übergangsraum glaubte, der es den Hinterbliebenen ermöglichte mittels Fürbitten und karitativen Handlungen für die Armen Seelen weiterhin mit den Toten zu interagieren. Am Vorbild der Heiligen Maria wurde den Gläubigen – und zwar besonders den weiblichen – das Verhaltensmodell einer Frau vorgehalten, die ihren Schmerz „freudvoll, gezügelt und innerlich“ kultivierte.

Daneben entstand ein „zivilreligiöses Leitbild der Trauer“, das auf die patriotische Ideologie der italienischen Nationalbewegung zurückging. Maßgeblich war dabei eine säkulare Ethik von Produktivität und Stärke, auch mit der Bereitschaft im Kampf für die Nation zu sterben. Innerhalb dieser Ideologie kam die Kultivierung von Melancholie oder demütigen Leids einer Schwächebezeigung gleich. Trauergefühle sollten daher in produktive Taten umgesetzt und überwunden werden. Spätestens, als das Königreich Italien im Jahr 1870 Rom und den Kirchenstaat annektiert hatte, trat neben militärische Stärke das ökonomische Leistungsvermögen als Garant für die nationale Wettbewerbsfähigkeit. Von nun an bestand die Aufgabe guter Staatsbürger vor allem in Arbeit und zivilgesellschaftlichem Engagement. Deprimierende Empfindungen wie Schwäche, Schmerz und Angst waren nicht erwünscht.

Wichtig ist dabei, dass der Autor herausarbeiten kann, dass die in der elitären Trauerkultur relevanten normativen Vorgaben dadurch zweigeteilt waren, dass emotionalen Anteile des Trauerns unterschiedlich auf die Geschlechter aufgeteilt wurden: Die eine Seite war religiös und weiblich konnotiert und beinhaltete den Verlustschmerz sowie die längerfristige Gefühlsarbeit, die andere, maskuline Seite war auf verehrendes Gedenken ausgerichtet. Hier sollte Trauer in produktives Schaffen konvertiert, ihre leidvollen Anteile hingegen möglichst überwunden werden.

Unter dem Titel „Die Moralisierung der Gefühle“ widmet sich der Autor anschließend der Bedeutung des Körpers für Trauergefühle und Praktiken. Komplementär zur Aufwertung von Trauer als soziale Tugend seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beobachtet er eine Moralisierung körperlicher Gefühlsanteile. Zeitgenössische Wörterbucheinträge zeigen dabei, dass körperliche Gefühlsbezeigungen im Rahmen von Trauerpraktiken in der sogenannten zivilisierten Welt des nördlichen Italiens langsam abnahmen, während die Trauer in fremden Kulturen ebenso wie in Süditalien mit einem gewissen Entsetzen als stark körperbetont beschrieben wurde. Zur Erklärung zieht er evolutionsgeschichtliche Überlegungen heran, wie sie sich seit den 1870er-Jahren verbreiteten. In ihnen werden Emotionen als Reizreaktionen definiert, die den Körper energetisch aufladen und über Wärme und Muskelbewegungen abgeleitet werden. Gefühle sind danach nur eine nachträgliche subjektive Wahrnehmung von körperlichen Prozessen. Leidvolle Gefühle wurden dabei als Schwäche gedeutet, da sie die Funktionsfähigkeit des Körpers verringern konnten. Allerdings wurden aber zwei Sorten von Emotionen unterschieden: auf der einen Seite die ‚guten‘ Seelengefühle, die kulturell geformt, innerlich, berechenbar und moderat abliefen; auf der anderen die ‚lästigen‘ Körpergefühle, die sich ausdrucksstark, heftig und plötzlich äußerten. Im Sinne des sozialen Prestiges galt es, letztere möglichst zu verbergen.

Entsprechend richtete sich seit den 1870er-Jahren der Fokus der Ratgeberliteratur immer stärker auf den sichtbaren Umgang mit Trauergefühlen, während ältere Publikationen noch primär an das subjektive Maß appelliert hatten. Da es innerhalb der entstehenden liberalen Wirtschaftsordnung immer wichtiger wurde selbst für das eigene Wohlergehen und den sozialen Status zu sorgen, verloren Normen wie Aufrichtigkeit und Natürlichkeit an Bedeutung und die sogenannte gute Erziehung wurde zu einem kulturellen und sozialen Kapital des Einzelnen.

Um die Jahrhundertwende verschärften wissenschaftliche Untersuchungen den Unterschied zwischen kultiviertem und unzivilisiertem Verhalten noch, man nun davon ausging, dass nur ‚starke‘ und ‚entwickelte‘ Körper in der Lage waren, moralisch zu fühlen. Frauen bekamen die Rolle der Trauernden zugeschrieben und zugleich traute man ihnen jetzt auch noch aufgrund ihrer angeblich schwachen Nerven nicht zu, ihre Gefühle kontrollieren zu können. Männern wurde zugeschrieben, dass sie ihren Schmerz in Schaffensenergie umformen und Trauer rasch überwinden konnten.

Grabmal der Caterina Campodonico auf dem
Staglieno in Genua Quelle: Superchilum
[CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)],
von Wikimedia Commons
Unter dem Titel „Topografien der Trauer“ widmet sich das fünfte und letzte Kapitel den unterschiedlichen räumlichen Umgebungen, in denen Trauer stattfindet und damit auch den Friedhöfen, die in diesem Blog im Mittelpunkt stehen. Angefangen wird mit den Wohnräumen der Verstorbenen. Dieser private Ort stand in zwei Situationen auch für Außenstehende offen, nämlich zur Erweisung der letzten Ehre am aufgebahrten Leichnam und für den später abgehaltenen Beileidsbesuch, mit dem den Hinterbliebenen Mitgefühl ausgesprochen wurde. Die Kondolenzvisite wurde jedoch zunehmend als Belastung empfunden. Trauernde zogen sich immer mehr in den Bereich des Privaten und Intimen zurück. Andererseits aber gewannen bürgerliche Trauerprozessionen und Bestattungszeremonien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts signifikant an Bedeutung. Die Teilnahme einer möglichst großen Menge von Freunden und Bekannten galt als Beleg für die Wertschätzung der Verstorbenen und ihrer Familien im privaten und öffentlichen Leben. Seit den 1880er-Jahren vergrößerten sich die Leichenzüge durch die verstärkte Teilnahme von Vereinsmitgliedern und Arbeiterkassen. Kam ein Trauerzug durch eine Straße, so ruhte für einen Augenblick das Alltagsleben. Beim Tod bekannter Persönlichkeiten wurde der öffentliche Raum sogar durch Geschäftsschließungen und Arbeitsniederlegungen in weitgehenden Stillstand versetzt. Gleichzeitig aber wurde die ungewollte Konfrontation mit Tod und Trauer im öffentlichen Raum in Frage gestellt: Bereits seit den 1870er-Jahren gab es Beschwerden über das Glockengeläut der Gemeindekirchen bei der Erteilung von Sterbesakramenten.

Der Friedhof als Endpunkt des Trauergeschehens wurde in Italien im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Ort des friedvollen Gedenkens und der Kontemplation umgestaltet. Eindrucksvoll belegt der Autor das durch die zeitgenössische Beschreibung des Cimitero vecchio in Neapel, der auch als Cimitero delle 366 fosse (Friedhof der 366 Gruben) bekannt ist. Verglichen wird dieser kahle ummauerte Platz, wo die Toten in Gruben beigesetzt wurden, mit jenen Friedhöfen, die durch ihre architektonische Gestaltung und ihre repräsentativen Grabbauten, kunstvollen Skulpturen, aber auch Fotografien und Epitaphe die Verstorbenen und zugleich das Prestige ihrer Familien abbildeten. Dabei sollte alles, was „das Emotionsregime des innerlich dominierten, um Liebe angereicherten Leidens und mit ihm die Toten- und Trauerruhe stören konnte“, ausgeschlossen werden. So wurden die Grabfelder von ärmeren und wohlhabenderen Bevölkerungsschichten deutlich getrennt und für das „anständige“ Verhalten der Friedhofsbesucher und des Personals wurden Regeln festgesetzt. Diese Vorgaben machten die Friedhöfe zu hierarchisch ausdifferenzierten Räumen, in denen schon beim Anblick der Gräber die soziale Herkunft der Verstorbenen erkennbar wurde.
Die Grabmäler selbst wurden als materielle Liebesgaben für die Toten begriffen, welche die Emotionen widerspiegelten, die Hinterbliebenen und Verstorbene verbanden. Das Grab war – vor allem für weibliche Angehörige – ein häufig besuchter Ort, an dem die Beziehung zu den Verstorbenen wachgehalten wurde.

Insgesamt verdeutlicht Buchner auch bei der Untersuchung der Trauer in ihren räumlichen Kontexten noch einmal die Relevanz der Geschlechterrollen: Öffentliches Trauern war weitgehend den Männern vorbehalten, während die Frauen den  privaten Teil übernahmen. Ersteres war dabei auf Verehrung angelegt, während letzteres vor allem die leidvollen Anteile umfasste.

Abschließend resümiert der Autor, dass sich die Geschichte der Trauer der italienischen Eliten im gewählten Untersuchungszeitraum grob in drei einander überlappende Phasen unterteilen lässt. In der ersten Phase, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1870er-Jahre reicht, waren in bürgerlich-adligen Kreisen traditionelle religiöse Überzeugungen und Praktiken noch stark verbreitet. Auf die Einbeziehung einer großen Öffentlichkeit zielte lediglich der Totenkult des Adels ab, der qua Geburt an der Spitze der sozialen Hierarchie stand. Bürgerliche Bestattungsfeiern waren dagegen meist auf das engste familiäre Umfeld begrenzt.

 Um 1870 setzte eine zweite Phase ein, die etwa bis zur Jahrhundertwende reichte. In dieser Zeit verschoben sich die Akzente des Trauermodells zugunsten bürgerlich inspirierter Werte: Die exklusiv angelegten Beziehungen zwischen Familienmitgliedern und Freunden wurden zum zentralen Ankerpunkt der Trauer und die öffentliche Inszenierung des Verlusts zu einem Indikator des sozialen Kapitals. Begleitet war dieses Trauermodell von einem Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den ländlichen und städtischen Unterschichten, deren Trauer als maßlos, naturhaft oder unaufrichtig kritisiert wurde;

Um 1900 setzte schließlich ein dritter Abschnitt ein, in dem sich eine Öffnung des elitären Trauerregimes andeutete. Normabweichungen waren nun akzeptiert, wohl auch, weil sich die bürgerlichen Mittelschichten im Zuge der ökonomischen Entwicklung vergrößerten und ausdifferenzierten. Diese Diversifizierung eröffnete aber auch Räume für eine verstärkte politische Vereinnahmung von Trauer, die sowohl von Seiten der Arbeiterbewegung als auch von Nationalisten betrieben wurde.

Buchners Untersuchung der Trauer dürfte nicht nur für Italien wegweisend sein, denn die Relikte der Trauer – wie die erhaltene Friedhofskultur des untersuchten Zeitraumes, aber auch die archivalischen Quellen und darunter besonders Zeitungsberichte und Fotografien von sepulkralen Ereignissen – sind in anderen Ländern Europas ähnlich, auch wenn die politischen Verhältnisse verschieden waren. Das Verdienst des Autors ist es, diese Relikte erstmals zu einer Gesamtschau zusammengeführt zu haben, mit der sie Überreste zum Sprechen gebracht werden und uns Heutigen ermöglicht wird, vor der Folie der Vergangenheit den eigenen Umgang mit Trauer zu überdenken.

Moritz Buchner, Warum weinen? Eine Geschichte des Trauerns im liberalen Italien (1850–1915). de Gruyter Mouton (Verlag), Berlin/Boston 2018, 358 S. mit schw.-w. Abb., 99,95 Euro