Sonntag, 25. Oktober 2020

Dinge, die bleiben - Reliquien im interdisziplinären Diskurs

Buchcover
Seit acht Jahren findet an der Theologischen Fakultät Rostock (Praktische Theologie) die "funerale" statt, die sich mit Themen der Bestattungskultur im religiösen Kontext auseinandersetzt und über die hier auch schon berichtet wurde. 

Im Tagungsband der 8. funerale geht es um die Vermessung des Begriffs Reliquie oder anders gesagt, um die Frage, was von einem Menschenleben - sei es nun profan oder heilig - bleibt. Dabei ist der Bogen dessen, was in diesem Band thematisiert wird, weit gespannt. Interdisziplinarität ist in Rostock Programm, auch wenn naturgemäß ein theologischer Schwerpunkt vorhanden ist.

Zusammengefasst werden die unterschiedlichen Beiträge unter den Oberbegriffen Theorietraditionen, Theologie im Dingdiskurs, Phänomene und Funerale Praxis. Eine ausführliche Einleitung der beiden Herausgeber skizziert die Bandbreite der "Dinge, die bleiben". Sie reicht von Fotos, Erbstücken, anderen Hinterlassenschaften und auch Gräbern auf dem Friedhof, die alle jeweils die Verstorbenen gegenwärtig werden lassen, über Reliquien, also im katholischen Glauben als wirkmächtig angesehene Überreste von Heiligen, zu sozusagen säkularen Privatreliquien, z.B. in Form von aus der Kleidung Verstorbener hergestellten Puppen als Seelentröstern oder Erinnerungsdiamanten aus dem Kohlenstoff der Kremierungsasche. Letztere betreten nach Einschätzung der Herausgeber "die religionskulturelle Bühne gewissermaßen in der Mitte zwischen katholischem Kult und privaten Lieblingsdingen" (S. 11). 

In diesem Rahmen geht es im ersten Teil um den Begriff Reliquie. Dabei wird zum Beispiel die Besonderheit des unverwesten Leichnams, die in Einzelfällen für Heilige oder Erleuchtete Persönlichkeiten immer wieder bezeugt worden ist, mit der profanen Haltbarmachung von Leichen durch Plastination in Verbindung gesetzt. Die vielfältigen Phänomene der Reliquiendevotion werden angesprochen. Historische Berichte über Reliquien zeigen nicht nur eine gewisse Nähe zum Thema der Totenruhe, sondern auch ihren kirchpolitischen Nutzen. Am Beispiel der Aschediamanten wird verdeutlicht, wie diese verwandelte materielle Substanz als Repräsentation der Verstorbenen verstanden und von den Angehörigen in die eigene Lebenswelt adaptiert wird. 

Im Bereich der Theologie wird dieser "Dingdiskurs" mit der Frage nach der Bedeutung der Dinge für den christlichen Glauben weitergeführt. Kommt den Reliquien - übersetzt also den Überbleibseln - die Zuschreibung als heilig in besonderer Weise zu, egal ob sie "echt" oder "unecht" sind oder aus sakralen oder profanen Zusammenhängen stammen? Welche Dinge können christliche Reliquien sein? Wann wird der Umgang mit den Dingen zur Sucht und damit nach christlicher Vorstellung zur Sünde? Parallel dazu geht es um praktische Fragen. So wird beobachtet, wie die Dinge, die jemanden im Leben umgeben haben, eine neue Bedeutung bekommen, wenn der Umzug in ein Hospiz ansteht. Die dafür notwendige Reduzierung der Dinge steigert nach Ansicht der Autoren zugleich ihre "Bedeutungsdichte". Gefragt wird auch, ob die Porträtbilder Verstorbener, die bei
Trauerfeiern aufgestellt werden, zu Reliquien werden können und wie es dabei zu einer Interdependenz innerer und äußerer Bilder kommt. 

Im Rahmen der Phänomene wird der inhärente Zusammenhang zwischen Erinnerung und Verdinglichung anhand einer Fallanalyse zur Diamantpressung der Kremierungsasche untersucht mit dem Ergebnis, dass man von einer Verdinglichung der Person und Personalisierung des Dings sprechen kann. Zudem wird das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Ansprüchen und Bedürfnissen im Umgang mit der Asche und den rechtlichen Gegebenheiten in Deutschland thematisiert und es werden insgesamt die rechtlichen Aspekte der funeralen Sachkultur erörtert. 

Der Block "Funerale Praxis" führt zu Beispielen, die den Umgang mit den Dingen, die geblieben sind, illustrieren. Sie werden als Trauerartefakte für die Hinterbliebenen gedeutet, durch die Trauerarbeit unterstützt werden kann. Untersucht wird zudem, welche Dinge den Toten "hinterher", also ins Grab geworfen oder in den Sarg gelegt werden. An ihnen "verdinglicht" sich die Rolle des Verstorbenen im Leben seiner Zugehörigen und wird damit zugleich ein Stück weit handhabbar.

Im Fazit wird die neue Aufmerksamkeit auf die Welt der Dinge, Artefakte, Techniken oder Substanzen thematisiert. Durch Tod und Bestattung können sie in persönlichem Rahmen sakralisiert werden, wobei für die meisten Überbleibsel eines Lebens eher das Gegenteil der Fall ist. Dinge aber, die mit Bestattung, Friedhof und Sepulkralkultur zusammenhängen, können so mein persönliches Fazit aus der Lektüre instruktive Einblicke in diese besonders geartete Kultur eröffnen und versprechen, so sie in den Focus der Forschung gerückt werden, ein vertieftes Verständnis der gegenwärtigen Bestattungskultur.

Thomas Klie / Jakob Kühn (Hg.), Die Dinge, die bleiben - Reliquien im interdisziplinären Diskurs. transcript Verlag, Bielefeld 2020, 260 S., gedruckt 33,00/E-Book 32,99 Euro