Montag, 3. April 2017

Die Zukunft des Todes - Heterotopien des Lebensendes

Cover von
Benkel, Die Zukunft des Todes
Thorsten Benkel hat zusammen mit Matthias Meitzler inzwischen eine mehrere Bücher und eine Vielzahl von Beiträgen verfasst, in denen der Umgang mit dem Tod und besonders die Friedhöfe aus dem Blickwinkel soziologischer Forschung betrachtet werden. Über ihre Untersuchungen zum Wandel der Bestattungskultur berichten sie auf einer eigenen Website. Außerdem läuft seit noch nicht allzu langer Zeit am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Passau ihr neues empirisches Forschungsprojekt mit dem Titel "Die Pluralisierung des Sepulkralen".

Für den von ihm herausgegebenen Sammelband zur Zukunft des Todes hat Thorsten Benkel eine Reihe von namhaften Persönlichkeiten um Beiträge gebeten (s. Inhaltsverzeichnis). Es geht ihm dabei, wie der Untertitel "Heterotopien des Lebensendes" deutlich macht um die Räume, in denen das Lebensende und das Abschiednehmen vor sich gehen. Im Rückgriff auf Foucault definiert er schon im Titel diese Räume als Heterotopien, grob übersetzbar als "Andersräume" oder (mit Wikipedia) als "Räume bzw. Orte und ihre ordnungssystematische Bedeutung" und das bedeutet zugleich Räume, die Normen, welche zu ihrer Zeit gelten, "nur zum Teil oder nicht vollständig umgesetzt haben oder die nach eigenen Regeln funktionieren".  


Die Beiträge, die von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen stammen, sind unter drei Oberbegriffen zusammengefasst: "Sterbediskurse", "Tod im Wandel" und "Verräumlichungen". In seinem Vorwort stellt der Herausgeber fest, dass "der Tod und auch die sozialen Begleiterscheinungen des Todes, heute vielleicht 'lebendiger' als je zuvor" sind (S. 8) und die Beiträge diese Lebendigkeit anhand von zwei Kategorien verfolgen sollten: einerseits anhand der Zukunftsoffenheit des Verhältnisses des Todes und seiner gesellschaftlichen Bezüge, andererseits aus einer "verräumlichenden" Perspektive, da Sterben, Tod und Trauer ihre eigenen Orte haben, die ihnen entweder temporär oder dauerhaft gewidmet sind.

Einleitend setzt sich der Herausgeber zunächst mit soziologisch relevanten Aspekten des heutigen "Totseins" auseinander und stellt dabei ein "parasoziales" Fortleben einer "postmortalen Identität" fest, wobei Identität und Individualität der Verstorbenen transformiert und in parasoziale Positionen gebracht werden, die sich im Einzelfall stark unterscheiden. Die darauf folgenden  "Sterbediskurse" beschäftigen sich in unterschiedlicher Weise sowohl mit dem Reden über den Tod und der fotografischen Gestaltung des Themas durch Jugendliche, wie mit den Orten, an denen tatsächlich gestorben wird - also in diesem Fall zuhause bzw. im Hospiz. Sie sollen, da es in diesem Blog um Friedhöfe geht, hier nicht weiter thematisiert werden.

Im Abschnitt "Tod im Wandel" geht dann Matthias Meitzler dem Wandel zeitgenössischer Friedhöfe in Europa nach. Er stellt die Frage, inwieweit sich die modernen individualisierten Biografien, die sich "u.a. durch ein permanentes ›Basteln‹ an der eigenen Existenz auszeichnen" (S. 133), gerade am Ort des Grabes abbilden. Aufgrund seiner Friedhofsbegehungen kommt er zu dem Schluss, dass zur Zeit noch die "aus der Norm" heraustretenden Gräber aus den weitgehend homogenen Grabreihen hervorstechen, das Ausgefallene jedoch in neueren Friedhofsbereichen bereits zum Kanon des Erwartbaren zu gehören scheint. Auf Grund dieser Schlussfolgerung hält er die Frage nach der Zukunft des Todes letztlich auch für eine Frage nach der Zukunft der Individualisierung, für die seiner Meinung nach - ebenso wie für das Leben - gilt, dass es keine Garantie auf Kontinuität gibt. (S. 157).

In den Beiträgen von Norbert Wichard und Dirk Preuß geht es dann eher um Randphänomene der Bestattung. Norbert Wichard schreibt aus kirchlicher Sicht über die Ordnungsamtsbestattungen und spricht sich für eine enge Vernetzung von kirchlichen und staatlichen Akteuren aus (S. 176). Ergänzend zur rechtlichen Situation könnten sie für einen würdevollen Umgang mit den Verstorbenen sorgen. Dabei sei ein kirchliches Begräbnis einerseits vielen Kirchenmitglieder ein wichtiges Anliegen, andererseits nehme aber insgesamt die religiöse und damit auch kirchliche Sozialisation ab. Auch das Verständnis des Begräbnisses als eines diakonischen Dienstes am Verstorbenen sowie die Kennzeichnung seines Grabes als Ausdruck seiner Würde über den Tod hinaus könne daher heute nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden.

Dirk Preuß nähert sich dem Phänomen der Tierfriedhöfe aus theologischer Perspektive an und identifiziert diese vor allem als eine Herausforderung, die bisher kirchlicherseits nur punktuell aufgegriffen wurde. Unter dem ein wenig irreführenden Untertitel "Der Tierfriedhof als neuer Ort" gibt er einen kurzen Abriss der Geschichte der Tierbestattung seit den Tiernekropolen der Alten Ägypter bis in die Gegenwart, um dann den gegenwärtigen Tierfriedhof ganz im Sinne der gesamten Fragestellung des Bandes als Heterotopie, d.h. hier als Ort von Krise und Abweichung darzustellen. In Bezug auf die krisenhafte Zeit der Trauer - egal ob um Mensch oder Tier - definiert er Tierfriedhöfe als Schutzräume, wo Trauer ausgelebt werden kann und sich Menschen mit ähnlichen Erfahrungen treffen. Dabei müssen sich die Kirchen seiner Ansicht nach fragen, ob sie den Menschen "in der Krise beistehen oder außerhalb des Friedhofzauns, des Krisenortes, stehen bleiben und sich selbst ausgrenzen wollen" (S. 190). In einem zweiten Abschnitt schildert der Autor den explizit und implizit utopisch-eschatologischen Charakter der Grab- und Friedhofsgestaltung für Tiere und versucht die Fragen an die Theologie zu klären, wie das postmortale Schicksal der Tiere kirchlich gesehen wird, und wie das Verhältnis des Menschen zu den (Heim-)Tieren bzw. darüber hinaus zur Natur angemessen theologisch zu bestimmen ist.

In den beiden folgenden Beiträge geht es zum einen um die Zukunft des Todesverständnisses für dessen Interpretation Aussagen von Jean Baudrillard herangezogen werden, zum anderen stellt Susanne Regener die Überreste einer Sammlung von Totenmasken vor, die in der Zeit zwischen 1856 und 1949 Kriminellen nach der Hinrichtung in Hamburg abgenommen worden sind. Diese Masken stellt sie in einen breiteren historischen Kontext und zeigt, wie sie im Vergleich zu den Totenmasken berühmter Persönlichkeiten als Studienobjekte der Klassifikation gesehen und ausgestellt wurden.

Der Abschnitt "Verräumlichungen" beginnt mit einem Artikel von Norbert Fischer über den "entfesselten Friedhof". Fischer zeigt auf, wie der Umgang mit den Toten und speziell die Bestattungs- und Erinnerungskultur den allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen unterliegt. Dabei sieht er die heutige Entwicklung im Gegensatz zu den Mustern des bürgerlichen Zeitalters, als der Friedhof mit seinen zumeist auf die Familien bezogenen Grabstätten der zentrale Schauplatz von Bestattung, Trauer und Erinnerung war und die Grabstätte ein Teil der gesellschaftlichen Identität auch nach dem Tod bedeutete. "In dem von hoher gesellschaftlicher Mobilität und Fluktuation geprägten postindustriellen Zeitalter hingegen haben solche traditionellen Ortsbindungen an Bedeutung verloren. Neuartige, partikularisierte Lebenswelten haben seit dem späten 20. Jahrhundert zu einer funktionalen Neugliederung des öffentlichen Raumes geführt. Dies gilt – mit einer gewissen Verzögerung – auch für den Umgang mit den Toten. Folgerichtig entfaltet sich im frühen 21. Jahrhundert eine gewandelte Bestattungs-, Abschieds- und Erinnerungskultur. Sie schafft sich neue Räume auch jenseits des Friedhofes und konstituiert häufig keine generationsübergreifenden Zusammenhänge mehr, sondern neue soziale Beziehungen jenseits der Familie. Statt sich in einzelnen Grabmälern dauerhaft zu materialisieren, erweisen sich ihre Muster als transitorisch und bringen häufig gemeinschaftliche, temporäre und provisorische Orte hervor" (S. 263). Dabei werden diese Muster seiner Meinung nach zugleich individualistischer und pluralistischer und zählen mit den neuen Bestattungs- und Erinnerungsorten in der freien Natur und im öffentlichen Raum nicht mehr zu jenem "ausgegrenzten Anderen und Fremden, das der klassische Friedhof immer bedeutete" (S.277).

Barbara Happe kommt in ihrem Beitrag zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn sie beschreibt, wie die Vielfalt von Bestattungsweisen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat und wie neben den Friedhof als Heterotop im Foucaultschen Sinne neue und andere Erinnerungsorte und -medien getreten sind, die ihm Konkurrenz machen. Während sich Foucault im Wesentlichen auf die katholischen Friedhöfe in Frankreich als feststehende Orte bezog, sind inzwischen sowohl neue Formen von Bestattungs-"Örtlichkeiten" als auch die "schiere Ortlosigkeit" entstanden, die ihrer Meinung nach in Zukunft zwangsläufig zu einem Verlust an Zeichen und aber auch an Möglichkeiten zu "Zeitreisen" für die Nachwelt führen werden.

Geht es bei den neuen Bestattungsformen zum großen Teil um Anonymität und "Ortlosigkeit", so ist bei der Trauer um Ungeborene das genaue Gegenteil der Fall. Der Beitrag von Julia Böcker zeigt, dass Eltern beim Engagement für Bestattungs- und Erinnerungsplätze für Föten auf Friedhöfen die sichtbare Anerkennung eines Todesfalls wichtig ist, der - gesellschaftlich immer noch eher am Rand wahrgenommen - für sie selbst tiefe Trauer mit sich bringt. Verbunden ist damit die Vorstellung "einer gelingenden Abschiednahme von einem geliebten Menschen ..., dem ein Platz im sozialen Gefüge zugesprochen wird" (S. 336). Nach Böcker gibt es dafür keinen Ort, der mehr "Trauerlegitimität" bietet, als den Friedhof.

Das relativ neue Phänomen der Trauer im Internet bildet den zukunftsweisenden Abschluss der Beiträge. Anke Offerhaus stellt darin fest, dass die Internetkommunikation immer alltäglicher wird, so dass die heute schon vorhandene öffentliche Sichtbarbeit mediatisierter Trauer und Erinnerung weiter ansteigen wird. Mediatisierung bezeichnet dabei "als sogenannter Metaprozess 'den Prozess sozialen und kulturellen Wandels, der dadurch zustande kommt, dass immer mehr Menschen immer häufiger und differenzierter ihr soziales und kommunikatives Handeln auf immer mehr ausdifferenzierte Medien beziehen' " (S. 341). Damit werden Mitteilungen über Todesfälle, Kommunikation von Trauer und Praktiken der Erinnerung besonders durch die sozialen Netzwerke im Internet immer wahrnehmbarer. Die Prognose der Autorin geht daher in Richtung einer immer stärker mediatisierten Trauer- und Erinnerungskultur, in der persönliche Lebensleistungen und die für verstorbene Personen charakteristischen Sinnzusammenhänge immer stärker ins Zentrum der durch das Internet archivierten Inszenierungen rücken.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Frage nach der Zukunft des Todes auch in diesem Band zu allererst eine Frage nach der Gegenwart und zugleich auch deren Voraussetzung in der Vergangenheit ist. Die Zusammenstellung unterschiedlicher Betrachtungsweisen und Gewichtungen sowie die interdisziplinäre Ausrichtung des Sammelbandes führt dabei zu interessanten Übereinstimmungen, Überschneidungen und Gegensätzen, die nicht nur einzelne Aspekte der gegenwärtigen Trauerkultur erhellen, sondern durchaus auch Ausblicke in eine mögliche Zukunft bereit halten.


Thorsten Benkel (Hg.), Die Zukunft des Todes- Heterotopien des Lebensendes, Bielefeld 2016, transcript Verlag, 370 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., gedruckt oder als E-Book 32,99 €