Cover des neuen Buches von Benkel, Meitzel, Preuß im Nomos Verlag |
Einleitend definieren die Autoren die im Titel genannte "Autonomie der Trauer" als einen "Aspekt der Mit- bzw. Selbstbestimmung", die sich auch nicht nur auf das eigene Leben sondern auch auf den Tod, bzw. genauer den Umgang mit den Überresten Verstorbener bezieht. In den folgenden Kapiteln beschreibt dann Thorsten Benkel unter dem Titel "Mitbestimmte Trauer - Soziologie einer Sinnkonstruktion" die Trauer soziologisch einerseits "unter den Vorzeichen von Individualisierung und Pluralisierung" und andererseits in Bezug auf die Normen, denen die Bestattung in Deutschland unterliegt. Matthias Meitzel diskutiert danach die von den beiden Wissenschaftlern angewandte Interviewmethode mit ihren Möglichkeiten und Grenzen für die Erforschung der Trauer als kultureller Praxis. Dass solche Gespräche sehr intensiv sein können und dass in dieser Situation Gefühle eine besondere Rolle spielen, zeigt schon der Titel dieses Abschnitts: "Keine Angst vor echten Tränen. Die Erforschung von Trauer als methodologische Herausforderung".
Die Interviews bilden die Grundlage für den folgenden Abschnitt "Rekonstruktion von Trauererfahrungen", in dem die Autoren den Mentalitätswandel mit Passagen aus den Interviews belegen. Für sie hat sich anhand ihrer Interviews und auch anhand von Umfrage- und ethnografischen Daten herausgestellt, "dass eine immer stärkere Ausdifferenzierung das öffentliche Image von Trauer und Trauern kennzeichnet. Mit anderen Worten: Es gibt nicht 'die Trauernden', sondern kultur-subjekt- und durchaus auch situationsspezifische Trauerfigurationen." Dabei geht es den Autoren "um ein Kaleidoskop kursierender Einstellungen und Einschätzungen am Beispiel eines im Umbruch befindlichen gesellschaftlichen Phänomens". Die Interviewpassagen sind dann unter sechszehn Obertiteln kategorisiert, die von den Gründen für die Teilnahme an der Studie, über die Entscheidungsfindung; Kommunikationskonflikte im persönlichen Bereich; die eigene Trauer; die Reflexion des rechtlichen Rahmens; den Aufbewahrungsort der Asche; die Frage, ob Trauer einen Ort braucht; zu den Gründen für die Entscheidung gegen den Friedhof und den Wünschen für die eigene Bestattung reichen.
Den Abschluss bildet die ethischen Überlegungen, die Dirk Preuß über die Normen im Umgang mit Trauernden anstellt. Sein Fazit ist, dass man Angehörigen nicht unbedingt empfehlen sollte, die Asche eines Angehörigen mit nach Hause zu nehmen und/oder sie außerhalb eines Friedhofs auszustreuen. Allerdings zieht er daraus nicht die Schlussfolgerung, dass man diese Mitnahme verbieten sollte. Immerhin würde seiner Ansicht nach eine "nicht geringe Zahl von Menschen" davon profitieren, wenn der Umgang mit der Totenasche liberalisiert würde. Als Alternative schlägt er vor, auf Friedhöfen kostenfrei Gräber anzubieten, die "im Sinne der Daseinsvorsorge z.B. steuerfinanziert sind". Dann würden bei der Freigabe der Urnen, diese nämlich nicht aus Kostengründen, sondern nur aus Überzeugung mit nach Hause genommen werden. Zudem könnte man sie dann später immer noch einem Friedhof übergeben, wenn die akute Trauer soweit abgeklungen ist, dass die Nähe der Totenasche nicht mehr von derselben Bedeutung ist wie direkt nach dem Tod.
Abschließend stellen die Autoren acht Vorschläge vor, wie dem von ihnen beobachteten Einstellungswandel begegnet werden könnte. Sie fordern so zum Beispiel weitere wissenschaftliche Expertise im sepulkralen Bereich und schlagen vor die bisherigen normativen Regelungen zu hinterfragen und zwar besonders deshalb, weil ihrer Meinung nach der Friedhof oft als Ort der Verbote wahrgenommen wird anstelle eines Ortes, an dem sich "Trauer frei und uneingeschränkt entfalten kann". Sie stellen die Einzigartigkeit der jeweiligen Trauer im Gegensatz zu dem kollektiv normierten Trauerverhalten der Vergangenheit heraus und glauben, dass die heute zu beobachtende Friedhofsflucht reversibel ist, wenn Friedhöfe eigene Alternativen zu den sogenannten alternativen Bestattungsformen entwickeln. In Zukunft erwarten sie zudem eine größere Nachfrage nach "funeraler Vielfalt". Für die Aufbewahrung der Totenasche schlagen sie kluge "Interimslösungen" vor, die den Friedhofszwang einerseits nicht vollständig aufheben, andererseits aber eine längere Frist zum Abschiednehmen ermöglichen. Zum Schluss weisen sie zudem auf die Verbindung des konkretem Bestattungsort mit den unterschiedlichen Gedenk-Orten hin, die z.B. im Internet bestehen und dort immer weiter anwachsen.
Thorsten Benkel, Matthias Meitzler , Dirk Preuß, Autonomie der Trauer. Zur Ambivalenz des sozialen Wandels. Nomos Verlag 2019, 220 S., broschiert, 44,- €*