Sonntag, 2. Januar 2022

Der Friedhof als Ort des Europäischen Gedächtnisses - eine Tagung in Murcia

Am 6. und 7. März 2020 wurde unter dem Titel "Der Friedhof als Ort des europäischen Gedächtnisses" von der "Gesellschaft für Anthropologie von Murcia (SOMA)" ein 2. internationales Symposium zur Bestattungskultur abgehalten. Die Beiträge von ForscherInnen aus Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden und Spanien sind jetzt auf Spanisch und - zum großen Teil auch auf - Englisch in der Nummer 28 der Zeitschrift "Revista Murciana de antropologiía" der Universität dieser spanischen Stadt nachzulesen. Die Aufsätze thematisieren insgesamt die sozialen und kulturellen Dimension der Friedhöfe und ihre Bedeutung für die europäische Identität.

Die Grundlage dafür bildet die Zusammenarbeit der oben genannten Gesellschaft mit dem Stadtrat von Murcia. Hauptziel ihrer seit 2015 bestehenden Verbindung ist die Erforschung der heimischen Bestattungskultur. Seitdem wurde jährlich ein thematischer Führer über den städtischen Friedhof erarbeitet. Es wurden außerdem zahlreiche Friedhofsführungen organisiert, sowie 2018 ein erstes Symposium durchgeführt, dessen Ergebnisse in der Ausgabe 26 (2019) der oben genannten Zeitschrift veröffentlicht sind. Beide Veröffentlichungen bilden zugleich Ergebnisse des europäischen Projektes "Kulturelle Aspekte der europäischen Integration", das vom Lehrstuhl Jean Monnet der Universität unter der Leitung von Klaus Schriewer für den Zeitraum von 2019-2022 läuft.

Am Anfang dieses Bandes gibt Norbert Fischer von der Universität Hamburg eine Einführung in die Begrifflichkeit, die sich im Rahmen von Erinnerung und Gedächtnis in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Dazu gehört die Definition des kollektiven Gedächtnisses als kultureller Speicher, der einen gesellschaftlichen Konsens über die zu bewahrenden Inhalte voraussetzt, wie z.B. Bibliotheken und Museen. Auch Friedhöfe mit ihrer jeweils spezifischen Landschaftsgestaltung können in diese Kategorie eingeordnet werden. Sie spiegeln die verschiedenen Wechselbeziehungen zwischen Tod, Gesellschaft und Erinnerung wider und sind räumlich gestaltete Ergebnisse des Alltagslebens einer jeden Gesellschaft. Im Rahmen des Konzeptes der Erinnerungslandschaft stellte Fischer nicht nur beispielhaft europäische Friedhöfe des bürgerlichen Zeitalters vor, sondern ging auch auf die politische und die regionale Einbettung dieser Orte ein, bevor er mit der Idee einer Kartografie der speziellen sepukral geprägten Erinnerungsorte und Landschaften schloss.


Im zweiten Artikel stellt Julie Rugg von der Universität York Überlegungen über die Wechselbeziehungen zwischen Erhaltung, Forschung und Interpretation von Friedhöfen in Zeiten eines wachsenden Interesses am Friedhofstourismus an. Sie geht von der Feststellung aus, dass der Tourismus zunimmt und zeigt auf, dass das sepulkrale Erbe und der Tourismus, der sich für dieses Erbe interessiert, zwar verbundene aber unterschiedliche Entwicklungen beinhalten. Sie zeigt die Probleme auf, die sich daraus ergeben können, dass viele Friedhöfe immer noch genutzt werden - sie definiert sie als "lebendiges Erbe". Deshalb fordert sie, dass auf die Interessen der Hinterbliebenen Rücksicht genommen werden muss, über die verschiedenen Aspekte der Sterblichkeit gesprochen und die "Funktionsweise" des Friedhofs besser untersucht wird. Gerade ethische Fragen müssen aufgeworfen werden, denn ein Hauptproblem des Tourismus auf Friedhöfen besteht in der Frage, wie bei einer immer höheren Besucherzahl mit unterschiedlichen Interessen das "sakrale Element" des Friedhof intakt gehalten werden kann. Ihr Fazit ist, dass Aktivitäten, die die Sakralität des Friedhofs untergraben, immer auch sein immaterielles sepulkrales Erbe untergraben. Deshalb ruft die Autorin dazu auf, effektive Strategien zu erschaffen um eine sorgfältige Integration des Friedhofstourismus verbunden mit Respekt für das sepulkrale Erbe zu sichern.

María Dolores Palazón Botella von der Universität von Murcia stellt die sozialen und künstlerischen Dimensionen einiger außergewöhnlicher Gräber vor, vorzüglich das des Industriellen Francisco Peña Vaquero, der für seine ewige Ruhe auf dem Friedhof Nuestro Padre Jesús in Murcia ein Grabmal aus Eisen errichten ließ. Sie zeigt auf, wie sich in der Gestaltung und dem Material dieses Grabmals der Beruf, das Arbeitsethos und die christlichen Ideale des Graberwerbers widerspiegeln.

Susanne Kitschun ist in Berlin für den Friedhof der Revolution von 1848 zuständig. Sie stellt die Geschichte dieses Friedhofs der Märzgefallenen von seiner Gründung in der europäischen Revolution von 1848-49 bis in die Gegenwart vor. Er wurde während der Revolution von 1918-19 erweitert und im Laufe der Zeit unter den verschiedenen politischen Systemen immer wieder umgestaltet. Von Anfang an aber war er ein Ort für zwei Zwecke: für die persönliche Trauer der Angehörigen der Toten und für Massendemonstrationen und politische Gedenkveranstaltungen zur Förderung von Bürger- und Menschenrechten. Dabei arbeitet sie heraus, wie solche sepulkralen Orte, die an die Geschichte der europäischen Demokratie erinnern, gemeinsame kulturelle und politische Wurzeln sichtbar machen können und damit zur Etablierung einer europäischen Erinnerungskultur beitragen.

Der niederländische Architekt und Historiker Jeroen Geurst zeigt am Beispiel der Entwürfe des britischen Architekten Sir Edwin Lutyens, wie Soldatenfriedhöfe mit dem Ziel entworfen wurden Orte des nationalen Gedenkens zu schaffen. Dieser Architekt und einige weitere haben nach dem Ersten Weltkrieg fast 1000 Friedhöfe und Denkmäler in Belgien, Nordfrankreich und an anderen Orten - in Asien - entworfen. Sie haben sich dabei auf einen gemeinsamen Stil geeinigt, den sie je nach Ort individuell variieren konnten. So gibt es auf jedem Friedhof zwei Hauptelemente, den von Lutyens entworfenen Kriegsstein und das Opferkreuz von Blomfield. Für die Soldaten, die nicht gefunden wurden, wurden riesige Denkmäler mit ihren Namen an den Wänden errichtet. Aufgrund des unterschiedlichen religiösen Hintergrunds der Soldaten wurden Stelen und nicht Kreuze für jedes Grab aufgestellt. Für Lutyens basierte das Konzept eines Friedhofs auf der Idee einer grünen Kathedrale, einer Kirche unter freiem Himmel, umgeben von Bäumen als Säulen. Dank der Pflege durch die Commonwealth War Graves Commission befinden sich die Friedhöfe noch immer in perfektem Zustand und spielen eine wichtige Rolle bei der Erinnerung an die Weltkriege.

Joachim Jacobs, ebenfalls Architekt und Historiker aus Berlin, gibt einen Überblick über jüdische Friedhöfe in der europäischen Geschichte und ihre Bedeutung für die Kultur und das Gedächtnis des Kontinents. Dabei geht es weniger um Grabsteine als um die Lage, Anlage und spätere Gestaltung dieser Begräbnisstätten. Jüdische Friedhöfe spiegeln die sich ständig verändernde Situation einer religiösen und sozialen Minderheit in einer manchmal toleranten, meist aber intoleranten Umgebung wider. Es ist eine Geschichte von Trennung und Integration, von Traditionsbewahrung und Assimilation. Diese Friedhöfe bilden aber zugleich auch das Zeugnis einer Minderheit früher Europäer, die den Kontinent nach dem Zusammenbruch der antiken Zivilisation miteinander verbanden. 

Die Ausgabe schließt mit einem Beitrag von Pablo Jesús Lorite Cruz, Doktor der Kunstgeschichte, der die antiken Begräbnisrituale der Totenwache und der Bestattung, bei denen die Herrichtung des Leichnams eine wesentliche Rolle spielte, mit neuen Bestattungsritualen vergleicht. Dazu zieht er die modernen Trauerfeiern heran, die in Bestattungsinstituten abgehalten werden; also in Orten, die so gestaltet sind, dass der Tod nicht existiert beziehungsweise getarnt wird. Außerdem geht er auf die Einäscherung ein und die neuen Orte, an denen die Asche entweder deponiert wird (Bäume, Seen, in Städten versteckte Kolumbarien, kommunale Flächen...) bzw. wo sie auf eine neue Art und Weise beseitigt wird (Übergabe an das Meer, die Luft, Wiesen auf Friedhöfen, Wasserkreisläufe...), bei der nicht der Überrest des Verstorbenen bewahrt wird, sondern nur noch die Erinnerung. Interpretiert wird das als Versuch, den Tod zu verbergen und fälschlicherweise anzunehmen, dass er nicht existiert.