Freitag, 18. November 2016

Stirbt der Friedhof?

Gerade erst hat Prof. Reiner Sörries, der ehemalige Geschäftsführer des Kasseler Sepulkralmuseums und der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, sein Buch "Ein letzter Gruß - Neue Formen der Bestattungs- und Trauerkultur" herausgebracht, da ist schon ein neuer kleiner Band von ihm erschienen, den man wahrscheinlich am besten als "Pamphlet" be
zeichnen kann. Schon der Titel fragt provokativ "Stirbt der Friedhof?" und spricht vom "Dahinsiechen traditioneller Friedhofskultur".
Sörries, Stirbt der Friedhof?
Fachhochschulverlag

In dieser Schrift geht Sörries daran, die Ursachen des von ihm antizipierten „Friedhofssterbens“ zu diagnostizieren. Rhetorisch fragt er in den Überschriften seiner Kapitel, ob es an Krankheit oder einem Unfall liegt, ob die Klimaveränderung schuld ist oder ein gewaltsamer Tod bevorsteht, ob die Umstände einfach nur so sind, ob es vielleicht sogar an der eigenen Unachtsamkeit liegt oder ob eventuell doch Rufmord am Friedhof begangen wird. Er erläutert kurz die Geschichte des „Kranken“ von der Verlegung der Bestattungsplätze seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, über die Einführung der Feuerbestattung, die Friedhofsreform und die Veränderungen nach dem 2. Weltkrieg, als sich die Anonyme Bestattung durchzusetzen begann bis zum heutigen „Krankheitsbazillus“ in Form der Naturbestattung und anderer alternativer Bestattungsformen, die er ja gerade in seinem letzten Buch öffentlichkeitswirksam beschrieben hat.

Sörries macht dabei die - eigentlich ja wohl gesamtgesellschaftliche - Liberalisierung als gravierendes Krankheitsbild aus und beschreibt sie als Eiterblase, die mit der Aufhebung des Friedhofszwangs geplatzt sei. Die Heilungschancen gehen seiner Meinung nach gegen null (S.21). Allerdings widerspricht er seiner frühen Diagnose nach der ausführlichen Darlegung weiterer Gründe für das Sterben der Friedhöfe, wenn er am Schluss schreibt (S. 96): „Es mag schon sein, dass der Friedhof das eine oder andere Wehwehchen hat, doch die bringen ihn nicht um“ und das Fazit zieht, dass der Friedhof mehr von Trauer verstehen sollte.

Welche Gründe aber sieht er für das - vermeidbare oder doch unvermeidbare - Friedhofssterben und die These, dass sich die Akzeptanz des Friedhofs in der Bevölkerung immer mehr verringert hat? Hier ein paar Beispiele: Die Vermutung eines Unfalls belegt er u.a. mit der Einführung und unerwarteten Ausbreitung der Feuerbestattung, durch die Überhangflächen in großem Umfang entstanden sind. Als Verlust der Seele des Friedhofs benennt er seine maschinengerechte Umgestaltung, den Trend der Ascheverstreuung und ein rationaleres Herangehen an Bestattungen durch die Angehörigen. Mit sepulkraler Klimaveränderung meint er das gesellschaftliche und geistige Klima, in dem individuelle Vorstellungen immer mehr die Oberhand über Tradition und Konvention gewinnen. Die Forderung der Friedhof müsse sich wirtschaftlich selbst tragen führt seiner Meinung nach zum gewaltsamen Tod, wobei das Anziehen der Gebührenschraube sozusagen der Sargnagel ist. Auch die mit dem Friedhof verbundenen Gewerke bekommen ihr Fett weg, wenn er von der Steigerung der Gewinnspannen durch billige Steinimporte oder die Verwendung „überreifer“ Blumen schreibt, die sich nur noch für Kränze eignen. Weitere „Krankheitsbilder“ folgen, wenn er immer noch einmal auf den gesellschaftlichen Wandel einschlägt oder „infolge der Umstände“ die Diagnose abgibt, dass die Menschen in unserer schnelllebigen Zeit dem Friedhof den Rücken kehren, weil sie keine langfristigen Verpflichtungen zur Grabpflege mehr wollen; oder wenn er meint, dass das Thema Friedhof in der Politik zwar unbeliebt ist, eigentlich notwendige Friedhofsschließungen aber sofort Gegner auf den Plan rufen. Unter dem Stichwort eigene Unachtsamkeit kritisiert er die Friedhofsverwaltungen, die ihre Satzungen als Totschlagargument gegen alle Bedürfnisse der Hinterbliebenen verwenden und durch unsensibles Verhalten, Ordnungsfanatismus, Achtlosigkeit - ein schlagendes Beispiel ist das Bild von Mülltonnen auf einer Grabstätte - den Unmut der Trauernden auf sich ziehen. Immerhin konstatiert er hier ein Umdenken durch die Entwicklung neuer Unternehmenskulturen und die Unterstützung von „Friedhofsfreunden“ (Ja, natürlich finde ich es gut, dass Fördervereine und dieser Blog im Buch erwähnt werden!), so dass er in der Unachtsamkeit keine Todesursache diagnostiziert. Unter dem Titel Rufmord kommt dann noch einmal der Friedhofszwang aufs Tapet zusammen mit dem „Totschlagargument“ der mangelnden Pietät der Hinterbliebenen. Letzteres wird durch das Gerücht belegt, die Amsterdamer würden ihre Urnen in den den Grachten entsorgen.

Die Reaktionen auf das von ihm diagnostizierte „multimorbide“ Krankheitsbild beschreibt er mit dem Phasenmodell der Trauerverarbeitung; spricht vom „Nicht-wahrhaben-wollen“ und der Phase des Aktionismus, die er als Seitenhieb auf den Tag des Friedhofs und die Versuche öffentlicher Werbung benutzt, die immerhin zumindest für Aufmerksamkeit gesorgt hat. Bei der Phase der Aggressivität gegen Angehörige wird noch einmal das "Grachtengerücht" wiederholt sowie die Schuldzuweisung an die Bestatter, die Alternativen zum Friedhof empfehlen. Für die Phase des Einwilligens in Unvermeidliches disqualifiziert er ausführlich die Idee, die Friedhofskultur als immaterielles Weltkulturerbe bei der UNESCO vorzuschlagen, als alleinige Idee der Grabsteinhändler, die den Friedhof nur deswegen wiederzubeleben versuchten, „damit ihr Nährboden nicht das Zeitliche segnet“. Das ist etwas irritierend, weil es für den UNESCO-Antrag ein breites Bündnis gab und der Autor selbst die Aufnahme in das Weltkulturerbe wärmstens empfohlen hat.

In den abschließenden Kapiteln kommt er dann zu den Selbstheilungskräften, wie z.B. das Nachdenken über gebührenfreie Reihengräber zusammen mit dem Verweis auf die „gesunde Verwandtschaft“ wie z.B. die Friedhöfe von Muslimen und anderen Religionsgemeinschaften. Insgesamt legt Sörries mit dieser Schrift den Finger in die Wunden des gegenwärtigen Friedhofs- und Bestattungsbetriebes und zählt eine Vielzahl von - um es gelinde zu sagen - schädlichen Entwicklungen auf. Seine Arzt-Patient-Metapher ist dabei durchaus amüsant zu lesen und gibt sicherlich noch zu einer Reihe von Kontroversen Anlass.

Reiner Sörries, Stirbt der Friedhof? Über das Dahinsiechen traditioneller Begräbniskultur. Band 6 der Schriftenreihe "Friedhofskultur heute", Fachhochschulverlag Frankfurt, 2016, 126 S., zahlreiche schw.-w. Abb., 15,00 €