Mittwoch, 9. November 2022

Sachsen-Anhalt - Orte des Gedenkens und Lernens

Cover
"Orte des Gedenkens und Lernens" ist der Titel einer zweibändigen und sehr dicken Publikation, die das Ministerium für Inneres und Sport in Sachsen-Anhalt herausgegeben hat. Im Untertitel wird deutlich, worum es geht: Es handelt sich – immerhin 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – um die Bestandsaufnahme der "Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1952 auf dem Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt". In der Pressemitteilung ist zu lesen, dass damit nach zweijährigen Erhebungsarbeiten erstmals eine vollständige Übersicht der im Land vorhandenen Kriegsgräber vorliegt. Redaktionell verantwortet wird diese Publikation von Dr. Lutz Miehe aus dem Ministerium, und Jan Scherschmidt, Landesgeschäftsführer und Philipp Schinschke, Bildungsreferent für Jugend-, Schul- und Bildungsarbeit des Landesverbandes des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

Ein sehr informativer Artikel von Philipp Schinschke leitet den Gräberkatalog ein. Von der Geschichte des Kriegsgräberrechtes in Deutschland ausgehend geht der Autor auf die unterschiedliche Gräberfürsorge in der Bundesrepublik und der DDR ein. Daran schließt er Darstellungen des Umgangs mit den unterschiedlichen Gruppen aller jener an, die in den – heute als Gräber von Krieg und Gewaltherrschaft deklarierten – Grabfeldern und Einzelgrabstätten bestattet sind. Für die Felder der Soldatengräber stellt er fest, dass es sich in Sachsen-Anhalt entweder fast ausschließlich um deutsche Tote oder um Anlagen mit verstorbenen sowjetischen Staatsbürgern handelt (S. 33). In den Gräbern von Zivilpersonen sind neben zivilen Bombenopfern auch Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen bestattet, denen die Luftschutzbunker während der ab Januar 1945 in Mitteldeutschland einsetzenden schweren Luftangriffe verwehrt waren. Auch die Opfer der Morde aufgrund des „Euthanasie-Programms“ der Nationalsozialisten fallen in diese ins sich sehr unterschiedliche Gesamtgruppe. Ein weiterer Teil der in der Publikation aufgeführten Grabstätten, gehören den frühen politischen Gegnern und den späteren Widerstandskämpfern, die ermordet oder hingerichtet wurden, unter ihnen die vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Mitglieder der „Danz-Schwantes-Gruppe“. Die Gräber derjenigen, die sich zur Zwangsarbeit in Deutschland verschleppt in den beiden großen Konzentrationslagern des Landes und in ihren zahlreichen Außenlagern zu Tode schufteten und besonders jene Gräber der Häftlinge, die am Ende des Krieges auf den sogenannten Todesmärschen umkamen, nehmen dabei einen besonderen Raum ein, da es in Sachsen-Anhalt bei Kriegsende zu grausamen Massakern an den Häftlingen kam. Da sich entlang der Marschrouten weitere Verbrechen an den Häftlingen ereigneten, finden sich dort auf vielen kleinen Friedhöfen ihre Gräber. Eingeschlossen in das Gräbergesetz sind auch die Orte, wo Menschen bestattet sind, die nach Kriegsende Opfer des kommunistischen Regimes wurden. Allerdings werden in der Publikation nur wenige genannt und nur die „Torgauer Häftlingsurnen“ auf dem Gertraudenfriedhof in Halle und die „Toten aus der Klausener Straße“ auf dem Westfriedhof in Magdeburg genauer vorgestellt.


Den Abschluss der Ausführungen dieses Autors bildet eine kurze Darstellung eines Untersuchungsdesiderats, nämlich der Frage, wie in der SBZ und der DDR mit den Kriegsgräbern und der Erinnerungskultur umgegangen wurde; ein Umgang übrigens, der mehr oder weniger von Desinteresse geprägt und mit einer Hierarchisierung der Opfergruppen verbunden war. In seiner Schlussbemerkung zur aktuellen Bedeutung dieser Grabstätten weist der Autor dezidiert auf ihre Bedeutung als außerschulischer Lernort hin, wenn er schreibt: „An kaum einem anderen Ort werden die Brüche der europäischen bis hinunter zu der lokalen Geschichte und deren Folgen … so greifbar wie am Kriegsgrab. … Der Rückgriff auf die einzelnen Lebens- und Leidensgeschichten kann abstrakte Vorgänge und das – für die meisten Schülerinnen und Schüler – lebensweltferne Kriegsgeschehen veranschaulichen, verstehbar machen und Empathie befördern“

An diesen Textteil schließt sich der Grabstättenkatalog an. Jede einzelne bzw. jedes Gräberfeld wird jeweils bildlich und mit einer mehr oder weniger umfangreichen Beschreibung vorgestellt. Der Katalog beginnt mit den Grabstätten in den kreisfreien Städten Magdeburg, Halle und Dessau-Roßlau, darauf folgen jeweils in alphabethischer Reihenfolge die Ortschaften der Landkreise (Salzwedel, Anhalt-Bitterfeld, Börde, Burgenlandkreis im ersten Band und im zweiten Band Harz, Jerichower Land, Mansfeld- Südharz, Saalekreis, Sulzlandkreis, Landkreis Stendal und Landkreis Wittenberg).

In der Pressemitteilung heißt es dazu: „Insgesamt befinden sich auf dem Gebiet des Landes Sachsen-Anhalt auf mehr als 900 Anlagen mehr als 50.000 Gräber von Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft der Jahre 1933 bis 1952. Die bestatteten Menschen stammen aus 33 Ländern, zumeist aus Deutschland sowie der ehemaligen Sowjetunion, zu welcher unter anderem die heutigen Staaten Russland, Weißrussland, Georgien, Kasachstan, das Baltikum und die Ukraine gehörten. Aber auch viele Kriegsopfer und gefallene Soldaten aus Polen, Frankreich, Italien, Ungarn, den Niederlanden, Tschechien, Belgien und weiteren Nationen haben im Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts ihre letzte Ruhestätte gefunden. Bei etwa jedem vierten Toten konnte die Herkunft bisher nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Unter den Opfern waren auch Minderjährige, Kinder von Zwangsarbeiterinnen, die in Deutschland geboren wurden, und Juden, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden oder bei Todesmärschen ums Leben kamen.“

Mit der Vorstellung dieser Publikation in Wolmirstedt wurde übrigens die Initiative des dortigen Gymnasiums und Museums gewürdigt, die das Schicksal des „gestrandeten Zuges“ erforscht haben: Als im April 1945 das Konzentrationslager Bergen-Belsen vor den heranrückenden britischen und US-amerikanischen Truppen geräumt worden war, kam einer der Bahntransporte 2.500 jüdischen Häftlingen – unter ihnen viele Frauen und Kinder – bei Farsleben zum Stehen und die Wachmannschaft des Zuges setzte sich ab. Amerikanische Soldaten befreiten und versorgten die Menschen. Doch starben mehr als einhundert von ihnen aufgrund von Hunger, Erschöpfung und Krankheit. Diese Ereignisse waren vor Ort mehr oder weniger in Vergessenheit geraten.

Insgesamt handelt es sich für mich bei diesem Katalog um ein Werk, dem ich wünsche, dass es besonders vor Ort von den Friedhofsträgern und allen pädagogischen Kräften, die sich mit der Ortsgeschichte befassen, wahrgenommen, verbreitet und als Quelle genutzt werden möge.

Orte des Gedenkens und Lernens, Hrsg. Ministerium für Inneres und Sport Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2022. 

Erhältlich ist die Publikation anscheinend nur über die Pressestelle des Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, Halberstädter Straße 2 / am "Platz des 17. Juni", 39112 Magdeburg, E-Mail: Pressestelle@mi.sachsen-anhalt.de. Allerdings ist anzunehmen, dass sie in absehbarer Zeit auch als PDF auf der Website des Ministeriums zur Verfügung gestellt wird.

Noch ein Hinweis, für den 1. Weltkrieg gibt es eine vergleichbare Publikation des Ministeriums mit dem Titel "Die Gräber erhalten - den Frieden bewahren. Gräber für die Opfer des 1. Weltkrieges auf dem Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt" als PDF.