Donnerstag, 2. März 2023

Das vergessene Gedenken

Dieses Buch widmet sich intensiv der Geschichte der Gedenkkultur der in der Bundesrepublik Deutschland neu gegründeten Bundeswehr. Dabei zeigt die Autorin auf, wie die Tatsache, dass diese Armee auf den Einstellungen, Erfahrungen und nicht zuletzt auf dem Personal der nationalsozialistischen Wehrmacht aufgebaut wurde, die Gedenkkultur für im Einsatz gestorbene Mitglieder dieses Verbandes während der Nachkriegsjahrzehnte geprägt hat. 

Im Zentrum der Arbeit steht die sich entwickelnde Gedenkkultur seit 1955 im Zusammenhang mit der Frage, "warum es über etwa vier Jahrzehnte hinweg so gut wie keine offiziellen und öffentlichen Formen des Trauern und des Gedenkens für die Toten der Bundeswehr gab." Akribisch zeichnet die Autorin nach, wie sich an Stelle einer offiziellen Gedenkkultur ein bundeswehrinternes Totengedenken entwickelte. Diese Memorialkultur wurde häufig von Veteranen der Wehrmacht geprägt, die im Gedenken an gefallene Kameraden den Mythos vom Heldentod ungebrochen propagierten und "dabei oft von einer Distanzlosigkeit zur NS-Diktatur geprägt" waren. 

Die folgende Untersuchung geht von den historischen Grundlagen moderner Gefallenenehrung aus und beschreibt drei Deutungsmöglichkeiten des "soldatischen Opfers"; die Deutung des Todes auf dem Schlachtfeld als "Sacrificium und Heldentod" gilt für die Zeit von den Befreiungskriegen bis 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dann in der neuen Bundesrepublik alle Toten des Weltkriegs mehr oder weniger pauschal als "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" angesehen (und ich merke dazu an, dass man erst jetzt z.B. auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg feststellt, dass Opfer und Täter - vom Nationalsozialismus überzeugte Angehörige des Heeres und von ihnen aus ihrer Heimat entführte Zwangsarbeiterinnen unterschiedslos im selbem Grabfeld bestattet und erinnert worden sind). In diesem Zusammenhang wird auch kurz das Totengedenken in der Nationalen Volksarmee der DDR angesprochen, das nach Aussage der Autorin ganz der staatlichen Kontrolle unterlag und der politischen Propaganda des sozialistischen Staates diente. 

Im Hauptteil des Buches werden als erstes minutiös die verschiedenen Veteranenvereine der Bundeswehr und deren Totengedenken vorgestellt. Letzteres zielte zum großen Teil auf die Wiederherstellung des Opfermythos für den "Heldentod" ihrer Kameraden und damit auch auf die eigene Rehabilitierung als ehrenhafter Soldat ab. Neue Soldatenbilder und Todesvorstellungen der Aufbaugeneration der Bundeswehr führten dann zu dem Bild des Soldaten als Staatsbürger in Uniform, ein Bild das mit einer gewissen Verdrängung des Soldatentodes verbunden war. Zwar gab es in der Bundeswehr immer wieder Todesfälle, allerdings handelte es sich meist um Unfalltote, deren kaum gedacht wurde. 

Erst nach 1990 kamen Soldaten bei humanitären Missionen und Kampfeinsätzen ums Leben. Bei der folgenden Untersuchung des sprachlichen Umgangs mit den Todesfällen zeigen sich in der Bezeichnung "Tod durch Fremdeinwirkung" die neuen militärischen Realitäten, die zu einem Wandel militärischer Trauerformen führen. Diesen Wandel macht die Autorin mithilfe eines Rückgriffs auf den militärischen Totenkult während des Kalten Krieges und seine historischen Ursprünge als scharfen Einschnitt sichtbar, der zu neuen Ehrenmalen und Gedenkanlagen der Bundeswehr aber auch zu neuen kameradschaftlichen Gedenkformen geführt hat und die Grundlage einer neuen, im Entstehen begriffenen offiziellen Trauerkultur der Bundeswehr bildet. In ihrem Fazit fragt die Autorin allerdings: "Welche Art von Vorbildern aber soll diese entstehende Trauer- und Gedenkkultur propagieren? Auf welche Traditionen zurückgreifen? Und wessen soll überhaupt gedacht werden? Können die Toten und Gefallenen der Bundeswehr dabei zu neuen, tauglichen militärischen Vorbildern werden?" (S.431)

Einen Einblick in das umfangreiche und sehr detailreiche Buch findet man auf dieser Seite der Bundeswehr, die auch Links zum Inhaltsverzeichnis und zur Einleitung enthält.

Julia Katharina Nordmann, Das vergessene Gedenken. Die Trauer- und Gedenkkultur der Bundeswehr, Oldenbourg, Boston: De Gruyter 2022 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 80), VII+515 Seiten, 51,95 Euro, ISBN: 978-3-11-078400-8