Cover von Weisser, Riensberger Friedhof |
Damit probiert er zugleich die Verbindung von Buch und Internet aus: Neben seiner eigenen Einleitung und die in das Gesamtthema Friedhof und Tod einführenden Texte von Seiten der Institutionen, die seine Arbeit unterstützen und würdigen, steht jeweils ein QR-Code. Wenn man diesen ausliest, gelangt man im Internet z.B. auf das Gesamtinventar des Friedhofs, sowie eine Reihe weiterer Seiten der Autors, die man natürlich auch über seine Homepage aufsuchen kann. Dementsprechend lautet der Untertitel des Buches: "Intermediale Heimatforschung und Quellensammlung als zeitgemäßer Beitrag zur Sepulkralkultur".
Auf die erwähnten einführenden Texte folgt ein umfangreicher Abbildungsteil, in dem in großformatigen Farbbildern, verbunden mit kleineren Detailaufnahmen, die Grabmale des Friedhofs vorgestellt werden. Die Auswahl des Autors bezieht sowohl die künstlerisch gestalteten Erinnerungsmale, als auch die Grabanlagen bedeutender Persönlichkeiten der Hansestadt ein und vernachlässigt auch nicht die kleineren Grabmale wie Kreuze, Stelen und liegende Steine. Ausführliche Bildunterschriften geben Auskunft über die Bestatteten und den Denkmalwert des jeweiligen Grabmals. Weitere Details zu den Familien, Einzelpersonen und Besonderheiten der Gestaltung werden ebenfalls erwähnt. Nicht ganz klar sind die Auswahlkriterien, doch kann man davon ausgehen, dass die Vorarbeiten der Bremer Denkmalpflege die Grundlage gebildet haben.
An diesen opulenten Bildteil mit seinen eindrucksvollen Aufnahmen schließt sich die ebenfalls reich bebilderte und akribisch erforschte Friedhofsgeschichte an. Dazu merkt der Autor selbst an, dass er die "Vitalität der Quellen" erhalten wollte und deshalb seine Ausführungen "zumeist über Zitate mit Quellennachweis vorgenommen" hat.
Interessanterweise beginnt er nicht mit der Geschichte des von ihm erforschten Friedhofs, sondern mit der Verlegung der Friedhöfe in Bremen aufgrund der Napoleonischen Gesetzgebung von 1811. Erst danach kommt er auf die zweite Verlegungswelle der Bremer Friedhöfe - also die Translozierung nach Riensberg und Walle - zu sprechen. Beide Friedhöfe gehören zu den frühesten echten Parkfriedhöfen in Deutschland. Nach amerikanischem Muster wurde dort eine Wasserfläche in die landschaftlich gestaltete Anlage integriert. So ist es interessant zu erfahren, dass der Bremer Courier schon 1871 schrieb, dass die zuständige Deputation für die Friedhofsverlegung von dem Gesichtspunkt ausging, "es sei der Wunsch der bremischen Bevölkerung, nicht wieder einen geradlinigen hässlichen Kirchhof, sondern eine schöne parkähnliche Anlage zu bekommen". Deshalb war übrigens auch "das Vorhandensein von Eichen" auf der in Aussicht genommenen Fläche in Riensberg von Bedeutung (S. 245).
Ausführlicher geht der Autor auf den Wettbewerb ein, der 1872 zur Erlangung von Entwürfen ausgeschrieben wurde. Insgesamt stellt er dabei fest, dass der für den Bremer Bürgerpark zuständige Landschaftsarchitekt und Journalist Wilhelm Benque möglicherweise in geringerem Maße, als bisher angenommen, an der Gestaltung des Riensberger Friedhofes beteiligt war (S.252f.). Allerdings ist aus der als Beweis zitierten Quelle zu entnehmen, dass Benque vor 1882 einen "Ausbildungsplan" für den Friedhof erstellt, den Friedhof besichtigt und "Gesichtspunkte zur landschaftlichen Verschönerung" eingereicht hatte. An dem Wettbewerb zehn Jahre zuvor hatte er sich allerdings nicht beteiligt. Ihn gewann der Aachener Gartenarchitekt C. G. Gustav Jancke (1845-1911). Zeitlich später hat dann offenbar Carl Ohrt, der 1884 Benques Nachfolger als Bürgerpark-Direktor wurde, an der weiteren Ausgestaltung des Friedhofs mitgearbeitet. In einer ersten Würdigung des Preisausschreibens von 1873 heißt es übrigens, die Idee "landschaftliche Parks anzulegen, und diese als Kirchhöfe zu benutzen, ist eine sehr poetische und wohl noch nirgend ausgeführt" (S. 341).
Die detailreiche Darlegung der Friedhofsgeschichte wird dem Fazit abgeschlossen, dass der Riensberger Friedhof ein Kulturort ist, der zu Recht eine ganz
besondere Wertschätzung erfordert und zugleich "im Wandel der gesellschaftlichen
Kraft des religiösen Glaubens, der fundamentalen Bedeutung des Todes,
des Zelebrierens von Trauer und dem Bedürfnis nach Erinnerung" seine Gestalt verändert. Laut Weisser bleibt gleichwohl "die Suche nach
einem Ort der Stille, der Besinnung und auch der poetischen Melancholie
erhalten. Und es bleibt die tiefe Sehnsucht nach einem geschützten
Raum, nach einer gehaltvollen Atmosphäre und einer besonderen Magie. Wo
anders könnte in der Oberflächlichkeit und Hektik des Alltags so ein
wichtiger 'Spirit' bewahrt bleiben wenn nicht auf dem Friedhof ..." (S. 308).
Bevor dann das Kapitel "Rezeptionsgeschichte" folgt, ist ein Abschnitt zur Feuerbestattung und dem Bau des Krematoriums auf dem Friedhof eingeschoben. Unter dem Stichwort Rezeptionsgeschichte wird dann nicht nur die Aufnahme der hinter dem Friedhofs stehenden Ideen durch die Zeitgenossen und spätere Generationen dargestellt, sondern die Friedhofsgeschichte wird sukzessive bis zur Gegenwart fortgeführt.
Dabei unterteilt der Autor - optisch leider kaum sichtbar - dieses Kapitel in eine Reihe von Unterabschnitten, die den Blick auf die Friedhofsgeschichte insgesamt erweitern, als da wäre: Parkfriedhöfe als Thema; die Bestattungskultur im 19. Jahrhundert; der Riensberger Friedhof um 1900; Kriterien in der Grabkunst; Friedhofskunst im beginnenden 20. Jahrhundert; der Deutsche Werkbund; die Reformbewegung; die Sehnsucht nach deutscher Identität; christliche Grabmale in Bremen; die Kritik am eitlen Grabmal; der Friedhof im Dritten Reich und danach; das anonyme Gräberfeld der 1970er Jahre; unterschiedliche Blicke auf den Friedhof ab den 1980er Jahren; das Beerdigungsinstitut Tielitz; das Beerdigungsinstitut „Friede“ Gebr. Stubbe; die Bäume und die Pflanzen. Zum Ausblick werden vierzehn Fragen an die Zukunft gerichtet, die sich teilweise sehr konkret auf das Interesse am und die Kenntnisse zum Friedhof auf Seiten verschiedener Bremer Einrichtungen beziehen.
Als Anhang wirken dann zwei weitere Beiträge, in denen das Verhältnis von Carl Ohrt und Wilhelm Benque noch einmal ausführlicher beleuchtet, sowie die kunstgewerbliche Werkstatt Kallmeyer und Nerreter vorgestellt wird. Ein ausführliches Literatur und Quellenverzeichnis, sowie ein Index und ein Künstlerverzeichnis, das auch wieder über einen QR-Code im Internet abzurufen ist, runden das eindrucksvolle Werk ab. Damit liegt erstmals eine umfassende Untersuchung der Friedhofsgeschichte und der Grabmalkultur des Riensberger Friedhofs vor. Den Autor darf man zu seiner ambitionierten Forschungsarbeit beglückwünschen und hoffen, dass er sich weiterhin für das Objekt seiner Forschungen engagiert; besonders da seine Arbeit nicht bei der hier besprochenen historischen Untersuchung stehenbleibt, sondern durch die Verlagerung in das Internet weitere Möglichkeiten der künstlerischen Vermittlung auslotet.
Michael Weisser, Der Riensberger Friedhof in Bremen 1811-2021 - Die Liebe höret nimmer auf... Intermediale Heimatforschug und Quellensammlung als zeitgemäßer Beitrag zur Sepulkralkultur. Isensee Verlag, Oldenburg 2021, 447 S., zahlreiche farb. Abb., 75 Euro