Michael Studemund-Halévy, der durch seine Forschungen und Publikationen zur Geschichte der Sefarden in Westeuropa und der Karibik bekannt ist, hat in der Reihe "Jüdische Miniaturen" ein neues Buch über den Jüdischen Friedhof an der Königsstraße in Hamburg-Altona herausgebracht. Auf Grund seiner Größe, seines Alters und der großen Zahl erhaltener Grabsteine gilt diese Begräbnisstätte als einer der weltweit bedeutendsten jüdischen Friedhöfe. Tatsächlich gab es schon im Jahr 2015 eine Bewerbung auf die Liste des UNESCO-Welterbes. Doch wurde die Nominierung drei Jahre später wieder zurückgezogen. Es hieß, dass alternativ eine transnationale Bewerbung mehrerer Städte mit sephardischen Friedhöfen angestrebt werde. Doch ist davon in der Öffentlichkeit nichts mehr zu lesen.
Umso wichtiger ist es also, dass die Geschichte dieses Friedhofs in Buchform der Öffentlichkeit präsentiert und auf die Bedeutung der dort erhaltenen Grabmale hingewiesen wird. Wobei anzumerken ist, dass es mit dem Erhaltungszustand von vielen der kostbaren Steine nicht zum Besten steht.
In seiner Vorrede "Über den Tod hinaus" weist der Autor als erstes auf die "verwirrende Buchstaben- und Bilderwelt" hin, die den Friedhof zu einem "Freiluftmuseum mit gelehrten Bibelzitaten und kunstvollen Gedichten, dekorativen Symbolen und biblischen Narrativen, wahren und erfundenen Genealogien" macht. Seiner Ansicht nach sind damit Friedhof und Grabsteine "visueller Ausdruck von der außerordentlichen Fähigkeit des Judentums, trotz Exil, Vertreibung und Verfolgung eine lebensoptimistische Konzeption der Zukunft als Schlusspunkt des Lebenszyklus auszubilden." Dieses Archiv aus Stein bildet zudem häufig die einzige noch vorhandene Quelle zu einem wichtigen Teil der jüdischen Vergangenheit in Hamburg. Zugleich weist Studemund-Halevy aber auch darauf hin, dass viele jüdische Begräbnisplätze einerseits durch die Auflösung und Neulegung von Grabsteinen auf andere Friedhöfe, andererseits durch die Auflassung, Zerstörung, Verwüstung und das Vergessen unwiederbringlich zerstört oder beschädigt worden sind.
Der Jüdische Friedhof Altona wurde 1611 errichtet und ist damit der älteste jüdische Friedhof in Hamburg. Seine Besonderheit ist die Aufteilung in ein portugiesisches und ein aschkenasisches Areal, das sich jeweils in seinen Grabmalen deutlich voneinander unterscheidet. Das knapp 1,9 Hektar großen Gräberfeld der Portugiesen ist der älteste Friedhof der aus Portugal, Spanien, Nordafrika und dem Osmanischen Reich eingewanderten Sefarden in Nordeuropa. Sie bezeichneten sich übrigens in Hamburg - wie der Autor anmerkt - selbst immer als Portugiesen. Drei Jahre später wurde übrigens der größere Portugiesenfriedhof in Ouderkerk bei Amsterdam angelegt. In Hamburg gibt es noch weitere portugiesisch-jüdische Grabstätten, die der Autor aufzählt.
Dankenswerterweise folgt auf diesen Überblick eine Zeittafel, in der die historischen Stationen von der Ankunft der ersten als Katholiken getarnten Portugiesen in Hamburg in den 1580er Jahren bis zur Emigration ihrer Nachfahren reichen. Erinnert wird an die mehr als 80 Hamburger Portugiesen, die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden. Zum Schluss wird die Erforschung des Friedhofs und auch die Bewerbung als UNESCO-Welterbe erwähnt. Erst darauf folgt ein historischer Abriss zur Geschichte des Friedhofs, der mit zahlreichen Informationen zu den für die Hamburger Zeitgenossen ungewöhnlichen, am Boden liegenden Zeltgrabsteinen der "Portugiesen" verbunden ist. Demgegenüber wählten die deutschen Juden als Grabsteinform die auch auf den christlichen Friedhöfen verbreitete Stele, also aufrecht stehend Steinplatten.
Ausführlich geht der Autor dann darauf ein, wie sich jüdische Glaubens-, Lebens- und Todesvorstellungen in den Reliefs und den teilweise ausführlichen Inschriften widerspiegeln. Den Portugiesenfriedhof zeichnet, wie er schreibt, "das Theatrum Sefardicum, die theatralisch inszenierte sefardische Sepulkralkunst in Wort und Bild" aus (S. 27). Ein Beispiel dafür wird mit dem Bild eines Reiters mit gezücktem Krummschwert auf dem Grabstein des Jacob Josua Henriques, gest. 1710, gegeben. Die Bildunterschrift erläutert, dass der "biblische Josua b. Nun (hebr. „der Herr ist Hilfe“), häufig als kämpfender Reiter dargestellt (gibor hajil, „der Tapfere“)" dargestellt wird. Er "darf Mose eine Weile bei der Besteigung des Sinai begleiten (Num. 19, 22), das Volk in das gelobte Land Kanaan und das Heer gegen die Amalekiter führen. Und er nimmt nicht am Götzendienst um das Goldene Kalb teil, weil er sich auf Moses Weisung hin außerhalb des Lagers aufgehalten hatte (Exodus 24, 13)." Zahlreiche weitere schwarz-weiße Abbildungen von Grabsteinen mit ausführlichen Erläuterungen lassen so auch für jene, die nicht alle Texte lesen wollen, die kunstvollen Reliefs auf den Zeltsteinen lebendig vom sefardischen Judentum erzählen, während im Text ausführlich nicht nur auf die Bilder, sondern auch auf die Epitaphien als "Letzte Worte über das Leben" eingegangen wird. Sie können auch als "Ego-Dokumente" oder aber als "Verwirrende Sprachspiele" gelesen werden, wobei das Motiv "Siste Viator – Verweile, Wanderer" und die Vorstellung von der "Krone des guten Namens" besonders hervorgehoben werden. In der Folge werden auch einzelne Symbole wie "Phönix, Pelikan und andere Tiere" oder "Familiennamen: Anker, Schlüssel, Wolf" , "Stammbäume ohne Wappen", "Memento-Mori-Motive", "Karet – Die Gewalt Gottes" und der "Knochenmann" vorgestellt und interpretiert.
Zum Schluss folgt mit den Kapiteln "Optimierung des Stadtbildes", "Zwischen Sein und Nichtsein", "Vom Arbeitslager zum Weltkulturerbe", "Rettung durch Fotografie", "In Schutt und Asche" und "Wenn die im Staub Ruhenden erwachen" eine ausführlichere Darstellung der wechselvollen Friedhofsgeschichte vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Ein kurzer Epilog berichtet von dem Besuch, den Alfonso Cassutos aus Lissabon 1955 seiner Geburtsstadt Hamburg abstattete. Er hatte sich, bevor er emigrieren musste, in zahlreichen Studien und einer (unvollendeten) Dissertation dem Friedhof an der Königsstraße gewidmet und fand sich zu seiner Bestürzung auf 'seinen' Friedhof unter den von Bomben zertrümmerten Grabmalen nicht mehr zurecht.
Neben den üblichen Anhängen schließt die Liste der ausführlichen Anmerkungen, sowie ein nach dem Inhalt geordnetes Literaturregister das Buch ab, das nicht nur mit seinen zahlreichen Hinweisen auf portugiesische Friedhöfe in anderen Ländern sondern besonders auch durch sein ausführliches Eingehen auf die sefardische Sepulkralkunst eine großer Bereicherung der Literatur zu dieser speziellen jüdischen Begräbniskultur darstellt.
Michael Studemund-Halévy, Der Hamburger Portugiesenfriedhof. Ein Weltkulturerbe. Verlag Hentrich&Hentrich, Hamburg 2023, 150 S., 67 schw-w. Abb., 12,90 €