Titelseite des neuen Buches von Anna Götz |
Die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin hat sich speziell der weiblichen Trauerfigur auf den Friedhöfen des ausgehenden 19. Jahrhunderts angenommen. Aufbauend auf den Ergebnissen der damaligen Inventarisation und unter Hinzuziehung ähnlicher Skulpturen von einer Reihe hauptsächlich deutscher aber auch weiterer europäischer Friedhöfe hat sie die Grabmalplastiken auf ihren Sinngehalt und ihre zeitgenössische Bedeutung hin ausgelotet.
Ausgelotet ist dabei wohl das richtige Wort für den multiperspektivischen Ansatz der Autorin, die wissenschaftliche Werkzeuge aus unterschiedlichen Disziplinen heranzieht, dabei ganz neue Wege beschreitet und ein breites Panorama von Deutungsmustern und Decodierungen der in den Figuren „versteinerten“ Chiffren vor dem Leser auffächert. Ihre logisch aufgebaute Abfolge von Einzelperspektiven beginnt nach der Vorstellung der angewandten wissenschaftlichen Methoden mit der Untersuchung des räumlichen Aspektes, also mit den Orten, für welche die Figuren konzipiert wurden. Mit dem Mittel der Sequenzanalyse nähert sie sich den Plastiken auf elf ausgewählten Begräbnisplätzen – Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg; Cimetière du Père Lachaise in Paris; Wiener Zentralfriedhof; Südwestkirchhof Stahnsdorf bei Berlin; Alter Südfriedhof, Nordfriedhof, Ostfriedhof und Waldfriedhof in München; Städtischer Friedhof Sihlfeld in Zürich, Cimitero di Staglieno Genua; Städtischer Waldfriedhof Traunstein. Sie geht dabei sozusagen von außen nach innen vor und entwirft für jeden Friedhof ein Bild der Gesellschaft, die er repräsentiert. An Einzelbeispielen zeigt sie auf, wie Grabmale in dieses Bild einpasst worden sind. Dabei wird sowohl die Geschichte der jeweiligen Friedhofsentwicklung dargestellt, als auch herausgearbeitet, wie das wohlhabende Bürgertum seine Plastiken an ganz bestimmten Stellen der Friedhöfe so verortet hat, dass sie sich im Blickfeld der Besucher befanden, also einerseits gesehen und bewundert werden konnten, andererseits aber gleichzeitig eine gewisse soziale Distanz zu den Grabfeldern der breiten Masse hielten.
Darauf folgt eine im weitesten Sinne ikonologisch ausgerichtete kunsthistorische Untersuchung, die sich dem Inhalt und der Symbolik der Trauernden unter Berücksichtigung zeitgenössischer Quellen widmet. In einander überlappenden Sequenzen errichtet Götz dabei einen Spannungsbogen, der ausgehend von den männlichen Todesgenien des ausgehenden 18. Jahrhunderts die verschiedenen geflügelten Gestalten
Trauernder Engel auf dem Ohlsdorfer Friedhof (Foto Leisner) |
Der dritte Hauptteil weitet den Blickwinkel auf die sozialhistorischen Gegebenheiten aus und nimmt Auftraggeber und Hinterbliebene ebenso ins Visier, wie die zeitgenössischen Geschlechterverhältnisse und den historischen Wandel der christlichen Glaubensvorstellungen , welche nicht nur durch den Darwinismus erschüttert wurden. Über die breit angelegte Erläuterung der sozialhistorischen Hintergründe und die Darstellung der gesellschaftlichen Konventionen, und damit auch der historischen Bedingtheit des Empfindens und des Ausdruck der Trauer, kommt die Autorin schließlich zu dem Fazit, dass der Gestus der Trauernden als „Träger einer Stimmung“ die „zeitgenössische Gefühlswelt zwischen Gedenken, Trauer, Sinnsuche und Verunsicherung trafen“ und damit „sinnstiftend und tröstlich“ wirkten. Dabei scheint nach Götz ihr „gesenkter oder verschleierter Blick … ins Unbestimmte zu führen“ und die Haltung eine „vage, ungewisse Vorstellung vom Jenseits“ zu verkörpern. Diese zu „Pathosformeln“ erstarrte Trauerhaltung schließt sozusagen körperlich fühlbar – mit persönlich fallen dabei die gerade neu entdeckten Spiegelneuronen im Gehirn ein, die dafür sorgen, dass der Betrachter innerlich dieselbe Haltung einnimmt, wie die Person, die er sieht – die „emotionale Bindung zu den Verstorbenen“ ein und ihre „Bildverwandtschaften lassen sie nicht nur die Ehrerbietung gegenüber dem irdischen Lebenswerk bekunden, sondern ebenso bedeutungsvoll bedauern.“
Grabmal Rübcke, Ohlsdorfer Friedhof (Foto Marianne Didier) |
Mit ihrer Untersuchung, die am Schluss das „Schlagbild“ der Trauernden bis in die Gegenwart verfolgt und darauf hinweist, dass ihre Beliebtheit nach einer Zeit der Ablehnung inzwischen wieder deutlich zunimmt, hat Anna-Maria Götz eine Forschungslücke geschlossen und einen großen Beitrag zum Verständnis der Trauerkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts geleistet, der zudem noch in einem treffsicheren Sprachduktus daherkommt. Ich persönlich habe dieses Werk mit großem Vergnügen und hohem Erkenntnisgewinn gelesen.
Diese Rezension habe ich gerade in der Zeitschrift "Friedhof und Denkmal" 4-2013 veröffentlicht.