Samstag, 6. Januar 2024

Institutionalisierter Tod - Geschichte der Berliner Leichenhäuser

 In der neuen Reihe „Tod und Agency“ ist als – zuerst erschienener – zweiter Band die überarbeitete und gekürzte Dissertation der Mitherausgeberin Nina Kreibig erschienen. In dieser Reihe soll – wie es im Vorwort heißt – ein kultur- und sozialgeschichtlicher Schwerpunkt mit interdisziplinären Ansätzen verbunden werden, „um die handelnden Personen und Institutionen in den jeweiligen Todeskontexten zu beleuchten“, daher der Titel der Reihe. Herausgeber sind außer der Autorin der bekannte österreichische Kulturwissenschaftler Thomas Macho und der Historiker Moisés Prieto, dazu stehen die Namen von einer Reihe in der Sepulkralwissenschaft bekannter Namen im Verzeichnis des wissenschaftlichen Beirats. 

Die profunde Studie von Nina Kreibig setzt sich zum ersten Mal intensiv mit den Ideen und Ängsten, aber auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auseinander, die in Berlin zwischen 1794 und 1871 zur Einrichtung von Leichenhäusern geführt haben. Neben einer chronologischen Entwicklungsgeschichte der einzelnen Einrichtungen, die meist kirchlichen Friedhöfen zugeordnet wurden, wird die zeitgenössische Wahrnehmung in Bezug auf diese Institutionen untersucht. Dabei steht besonders der Wandels der Bestattungskultur und der Todesvorstellungen im Vordergrund. Mit der Frage nach den Gefühlen, die für die Errichtung von Leichenhäusern bestimmend waren, und nach den Narrativen in Bezug auf Tod und Sterben wird auch die Emotionsgeschichte einbezogen. Parallel dazu wird die Stadtentwicklung Berlins thematisiert und gefragt, welchen Einfluss die Industrialisierung verbunden mit dem städtischen Bevölkerungswachstum auf die Entwicklung der Bestattungskultur und speziell der Leichenhäuser hatte. Ein weiterer Blickwinkel bezieht unter dem Stichwort „Partizipation und Agency“ die handelnden Personen und ihre gesellschaftlichen Gruppen ein und fragt danach, an wen sich die Akteure richteten und an wen nicht.


Mit diesen Fragestellungen, die am Anfang der Arbeit erläutert werden, beginnt die Untersuchung mit einer Einleitung zur allgemeinen geistes- und kulturgeschichtlichen Situation im ausgehenden 18. Jahrhundert. Danach stehen die medizinischen, gesellschaftlichen und religiösen Veränderungen dieser Zeit im Vordergrund, die erhebliche Verunsicherungen in den europäischen Gesellschaften auslösten. Dabei kontextualisiert Kreibig besonders das „Angstphänomen des Lebendig-begraben-Werdens“ und geht auf die Lösungsmöglichkeiten ein, zu denen der Bau von Leichenhäusern als eine zugleich populäre und umstrittene Idee gehörte. Es folgt eine systematische und sehr ausführliche Analyse der Geschichte der Berliner Leichenhäuser, die auf einem akribischen Quellenstudium basiert. Die Autorin hat dabei besonders die Akten der kirchlichen und städtischen, sowie der preußischen staatlichen Archive der Stadt durchforstet. Aufgrund dessen kann sie die Genese dieser Einrichtungen mit großer Genauigkeit nachvollziehen. Das führt zu einer ausführlichen Darstellung der Brüche und Verschiebungen von Intentionen, die sich in den annähernd 80 Jahren zwischen 1794 bis 1871 ergeben haben. 

Zusammenfassend konstatiert die Autorin, dass sich am Beispiel Berlins zwei Phasen der Leichenhausentwicklung ablesen lassen, „in denen unterschiedliche Gründe zum Bau der Einrichtungen dominierten und die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu gegenläufigen Positionen führten“ (S. 439): Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts propagierten Teile der bürgerlichen Schichten die Sorge um potenzielle Scheintote, denen im Namen von Mitmenschlichkeit und aufgeklärten Denken Hilfestellungen geleistet werden sollten. Als eine der sinnvollsten Optionen zur Erreichung dieses Ziels galten die Leichenhäuser, die mit entsprechenden Einrichtungen zur Wiederbelebung Scheintoter ausgestattet wurden. Die Akteure, zusammengefasst unter dem Begriff einer „emotional community“, bildeten jedoch nur einen Teil der damaligen Gesellschaft. Die Angehörigen der Unterschichten waren weitestgehend von dem Diskurs ausgenommen und in den bürgerlichen Schichten selbst bestanden ebenso wie in den kommunalen und staatlichen Institutionen gegensätzliche Meinungen.

Spätestens für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erkennt Kreibig einen Paradigmenwechsel, bei dem die Sorge um Scheintote „sukzessive von hygienischen Befürchtungen vor Ansteckung mit Krankheiten verdrängt“ wurde. Davon wurden – auch unter dem Eindruck der zahlreichen Choleraepidemien im 19. Jahrhundert – mehr oder weniger alle gesellschaftlichen Gruppen erfasst, so dass die Autorin hier den Begriff des „emotional regime“ verwendet.  Den Wandel macht sie an ausstattungstechnischen und architektonischen Aspekten fest. Mit der Ablehnung von Weckapparaten für Scheintote, der Nutzung von Kühlsystemen, der Unterbringung von Leichen in Kellergewölben und einer stärkeren Konzentration auf Trauerkapellen dominierten jetzt vorwiegend hygienische Aspekte. Mit diesem Prozess, der die einst zur Vermeidung des Scheintods errichteten Leichenhäuser in Leichenhallen für die Aufbewahrung Toter unter hygienischen Bedingungen veränderte, ist laut Kreibig auch die „sukzessive Entfernung der Verstorbenen aus dem Bereich der Lebenden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert“ verbunden, die „im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts Züge einer gesamtgesellschaftlichen Todesverdrängung annahm“. 

Mit dieser umfangreichen Studie hat Kreibig einen eindrucksvollen Beitrag zur Kulturgeschichte des Todes vorgelegt, der für weitere Untersuchungen von grundlegender Bedeutung ist. 

Eine kleine Einschränkung allerdings möchte ich hinzufügen: Meiner persönlichen Meinung nach hätte diese Publikation eine stärkere Konzentration auf die wesentlichen Punkte verdient gehabt. Auf allgemein interessierte Leser und Leserinnen dürfte die seitenlange Ausbreitung des für die Dissertation grundlegenden Quellenstudiums doch ein wenig ermüdend wirken. Ab und an bin ich außerdem beim Lesen über grammatikalisch unverständliche Satzteile und Flüchtigkeitsfehler gestolpert. Besonders aufgefallen ist mir außerdem der Begriff „Comfort-Deputation“ (S. 188), für den ich leider weder im Text noch im Internet eine Erklärung finden konnte. Doch sollen diese kleinen Einschränkungen die große Bedeutung dieser Publikation für die sepulkral-wissenschaftliche Forschung keinesfalls mindern.   

Nina Kreibig, Institutionalisierter Tod. Die Kultur- und Sozialgeschichte der Berliner Leichenhäuser im 19. Jahrhundert. Tod und Agency. Interdisziplinäre Studien zum Lebensende, Band 2, transcript Verlag, Bielefeld, 2022