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Cover, Kosuch: Abschaffung des Todes |
Die Hauptthese, die mit einer ungewöhnlich breiten Quellenkenntnis unterlegt wird, ist, „dass der nicht vergehende Mensch ein entscheidendes Signum des Säkularistischen darstellt“ und dass dabei technische und wissenschaftlich-medizinische Neuerungen sein Überdauern versprachen und auch heute noch versprechen. Säkularistisch bedeutet in der Definition der Autorin „die Ablehnung religiöser Weltbilder, Institutionen und Praktiken und ihren Ersatz durch solche, deren Basis Weltlichkeit, Wissenschaft, Rationalität und zivile Moralvorstellungen bilden.“ (S. 11, Anm. 10)
Damit wendet sich die Arbeit solchen Konzepten und den damit verbundenen Praktiken zu, die einerseits nicht das christliche Glaubenssystem eingebunden sind, und andererseits trotzdem ein Fortbestehens der Toten, wenn auch in anderer Form, ermöglichen wollen. Die Untersuchung ist dabei zeitlich weit gefasst, geographisch übergreifend und wissenschaftlich interdisziplinär angelegt. Zwar werden hauptsächlich westeuropäische Beispiele interpretiert, doch es gibt auch Ausblicke auf die Verhältnisse in Amerika und Russland. Grundlage und Ausgangspunkt der Untersuchung sind hauptsächlich schriftliche Quellen zur Geschichte der neuzeitlichen Kremation.
Der oben skizzierten Fragestellung wird in vier Hauptkapiteln nachgegangen. Zuerst geht es um die „Erschütterungen des christlichen Bestattungswesens und christlicher Anschauungen von Tod und Nachleben“ im revolutionären Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nachvollzogen wird, auf welche Weise sich in dieser Umbruchszeit Alternativen zu dem vorherrschenden christlichen Bestattungswesen und den entsprechenden Anschauungen von Tod und Nachleben entwickelten. Ein besonders interessantes Unterkapitel ist den vielen neuen Ideen gewidmet, die 1795 bei einem Preisausschreiben des Institut National de France eingesandt wurden. Die – männlichen - Autoren antworteten auf die Frage, welche Zeremonien bei Bestattungen durchgeführt und welche Vorschriften für den Bestattungsort gelten sollten.
Zeitlich springt das nächste Hauptkapitel etwas unvermittelt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und thematisiert die Feuerbestattungsbewegung in der katholisch dominierten Kultur Italiens. Vor dem Hintergrund der nationalen Einigungsbewegung und der Kulturkämpfe geht es um die Genese und Ausgestaltung des Diskurses über die Feuerbestattung. Ausgegangen wird von der These, dass das Säkulare und Säkularistische im 19. Jahrhundert auf der Ebene von Institutionen, Experten, Recht, Praktiken und Begriffen in eine rivalisierende Beziehung zum Religiösen trat. Diese These wird mit einer Vielzahl von Beispielen belegt, die unter anderem das zeitgenössische Hygieneparadigma, die Einführung der Feuerbestattung mit dem ersten Krematorium in Mailand thematisieren. Im Rahmen von weiteren Alternativen zur Erdbestattung werden Vorstellungen vom menschlichen Überdauern nach dem Tod vorgestellt. Sie haben zum Beispiel in dem – um 1900 sehr aktuellen – Spiritismus oder auch in der Konservierung von Körpern berühmter Persönlichkeiten bzw. der Herstellung von Körperpräparaten für die Wissenschaft ihren Ausdruck gefunden.
Unter dem Titel „Schöpfergeschichten: Feuerbestattung und Männlichkeit“ werden dann die Quellen aus der Anfangszeit der technisch dominierten Feuerbestattung auf deutsche, britische, schweizerische und US-amerikanische protestantische Kulturen erweitert. Hauptthema ist dabei die Frage nach den darin enthaltenen Emotionen und ihrer geschlechtlichen Zuschreibung. Herausgearbeitet wird ein „säkularistischer Code“ aus Gegensatzpaaren, der auch durch den vorwiegend männlichen Diskurs um Feuerbestattung und Verbrennungstechnik verbreitet worden ist. Zeitgenössisch wird beides vor einer sogenannten Antifolie thematisiert: Sie besteht in den Vorstellungen der Verfechter der neuen Bestattungsweise aus Verfall, Dunkelheit, Erdgrab, Chaos und Natur, aber auch „dem Weiblichen als das mit der christlichen Religion verbundene ‚Andere‘“. Eine Schlussfolgerung ist, dass diese Aus- und Abgrenzung gegen das weltanschauliche und „vergeschlechtliche“ Gegenüber im 20. Jahrhundert zu dem antisemitisch und rassistisch angefeindeten „Anderen“ wird und letztendlich zur Vernichtung der Juden in den Krematorien der Konzentrationslager beigetragen hat. Nicht nur damit mit dem Geschlechterthema nimmt die Untersuchung aktuelle wissenschaftliche Fragestellungen und Thesen in sich auf.
Mit dem letzten Kapitel „Horrores Sepulcrorum: Der Tod auf dem Prüfstand“ werden die Linien der historischen Entwicklung bis in die Gegenwart gezogen. Es geht dabei um die experimentellen und kommerziellen Möglichkeiten, mit denen unter anderem versprochen wird, dass Verstorbene digital lebendig bleiben können und man so weiterhin mit ihnen kommunizieren kann. Dabei geht die Autorin davon aus, dass der von ihr in den vorherigen Kapiteln herausgearbeitete „säkularistische Code“ in Form von „Säkularistemen“ – verstanden als variable Bausteine dieses Codes – wirkt. Diese Säkularisteme bestehen laut der Autorin aus Polaritäten: „Fortschritt statt einem dem Religiösen zugeschriebenen Rückschritt, Technik statt Natur, Naturwissenschaft statt Theologie, Diesseits statt Jenseits, Forschung statt Glaube, Ermächtigung statt Demut, Steuerung und Beschleunigung statt Fügsamkeit und Langmut, Rationalität statt Irrationalität, Ordnung statt Chaos, Optimismus hinsichtlich einer durch Menschenhand zu gestaltenden Zukunft in dieser Welt statt Hoffnungen auf Auferstehung nach dem göttlichen Endgericht und ein Dasein auf einer neuen Erde, Leben statt Tod, Sein und beständiges Werden statt ungewolltes Vergehen“.
An Beispielen – wie dem Erinnerungsdiamanten, dem „Weiterleben“, sei es digital oder stofflich den sogenannten neuen grünen Bestattungsweisen wie der Promession oder Terramation, bzw. im Transhumanismus und in der Kryonik – wird erläutert, wie die säkularistischen Haltungen zu Tod und Nachleben, die für das ausgehende 18. und das langen 19. Jahrhundert herausgearbeitet worden sind, in der Gegenwart „als handlungsleitende Glaubenssätze“ fortwirken, obwohl völlig neue Techniken eingesetzt werden. So verheißen Wissenschaft und Technik im Umfeld von Sterben und Bestattung immer neuen Fortschritt und versprechen, den Tod als etwas angstbesetztes Fremdes zu überwinden und ein ewiges Fortleben zu ermöglichen.
Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis schließt diese Arbeit ab, die nicht nur die historische Kenntnis der Entwicklung der Feuerbestattung auf gesamteuropäischer Ebene erweitert, sondern auch mit ihrer speziellen Fragestellung zum Säkularismus ganz neue Aspekte zum Verständnis des kulturellen Umgangs mit Tod und Bestattung beiträgt.
Carolin Kosuch, Die Abschaffung des Todes – Säkularistische Ewigkeiten vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. Campus Historische Studien, Bd. 84, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2024, 56 Euro